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Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Heidi und andere klassische Kindergeschichten

Titel: Heidi und andere klassische Kindergeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Spyri
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mag unseren guten Schreiner Andres gerade so gern wie wir alle; gestehe es nur ein, Mann! Eben hat mir Andres auch für dich noch einen Auftrag übergeben, er hat seine jährliche Summe gebracht und bittet um deinen Beistand.«
    »Das ist wahr«, sagte der Oberst; »einen ordentlicheren, fleißigeren, zuverlässigeren Mann kenne ich nicht. Dem würde ich Weib und Kind und Hab’ und Gut und alles anvertrauen wie keinem anderen; das ist der ehrlichste, wackerste Mann in unserer ganzen Gemeinde und noch weit darüber hinaus.«
    »Jetzt siehst du, Max«, sagte die Frau lachend; »ich konnte doch nicht mehr sagen.« Ihr Bruder lachte mit über den Eifer, in den der Oberst unversehens gefallen war. Dann entgegnete er: »Nun habt ihr mir alle so viel von eurem Wundermann vorerzählt, daß ich wirklich wissen möchte, woher er stammt und wie er aussieht. Habe ich ihn denn noch nicht gesehen hier?«
    »Ach, du hast ihn ja so gut gekannt, Max«, entgegnete seine Schwester; »du mußt dich durchaus noch des Andres erinnern, mit dem wir zur Schule gingen. Weißt du denn nicht mehr, wie zwei Brüder zusammen in derselben Klasse mit dir waren? Der ältere war damals schon ein rechter Taugenichts; er war gar nicht dumm, aber tat nichts und blieb darum stecken und kam dann mit dem viel jüngeren Bruder in eine Klasse zusammen, in welcher du auch warst. Du mußt dich gewiß erinnern, er hieß Jörg und hatte ganz schwarzes, steifes Haar. Er bewarf uns, wo er konnte, mit irgend etwas, mit unreifen Äpfeln und Birnen und dann mit Schneeballen, und rief uns überall nach: ›Aristokratenbrut!‹«
    »O der, der«, rief Onkel Max lachend, »ja, nun weiß ich auf einmal alles. Richtig, ›Aristokratenbrut‹ rief er uns beständig nach; ich möchte nur wissen, wie ihm das Wort in den Sinn kam. Er war ein widerwärtiger Kerl; ich weiß. Da sah ich ihn einmal einen viel kleineren Jungen ganz unbarmherzig durchprügeln; dem half ich aber, dafür rief er mir wohl zwölfmal nach: ›Aristokratenbrut!‹ Ach, nun weiß ich auch auf einmal, wer der andere war; das war der magere, kleine Andres, sein Bruder, das ist gewiß euer Andres, und dann ist das auch der Andres mit den Veilchen, nicht wahr, Marie? O, jetzt versteh’ ich schon die dicke Freundschaft«, lachte Onkel Max auf’s neue auf. – »Was Veilchen, das muß ich wissen«, fiel der Oberst ein. – »O, die Geschichte ist mir auf einmal vor Augen, als wäre sie gestern geschehen«, sagte der Onkel ganz angeregt von seinen Erinnerungen; »die muß ich dir erzählen, Otto. Du weißt vielleicht durch deine Frau, daß wir hier im Dorfe in jenen glücklichen Zeiten unserer Kindheit einen alten Schullehrer hatten, der fand, daß alle Mängel und Gebrechen der Schulkinder aus ihnen heraus-und alle Fähigkeiten und guten Eigenschaften in sie hineingeprügelt werden könnten. So war er genötigt, sehr viel zu prügeln, um den einen oder andern guten Zweck zu erreichen, manchmal auch beide auf einmal. Einmal nun war ihm der magere Andres unter die Hand gekommen; dem schlug er nun so kräftig seine wohlgemeinte Ermahnung auf den Rücken, daß der Andres laut aufschrie. In diesem Augenblick stand meine kleine Schwester, die kürzlich in die Schule eingetreten war und sich noch nicht so recht in die daselbst herrschenden Gebräuche eingelebt hatte, plötzlich auf von ihrem Sitze auf der ersten Bank und schritt eilig der Tür zu. Einen Augenblick hielt der Schullehrer inne mit seiner Arbeit und rief ihr nach: ›Wo läufst du hin?‹ Marie kehrte sich um; die hellen Tränen liefen ihr über die Backen herunter und sie sagte ganz aufrichtig: ›Ich will heimgehen und es dem Papa sagen.‹ ›Wart, ich will dir‹, rief jetzt der Schullehrer in großer Überraschung und stürzte vom Andres weg auf die kleine Marie los; die prügelte er aber nicht, er nahm sie nur beim Arm und setzte sie ziemlich fest auf ihren Platz hin; dann sagte er noch einmal: ›Wart, ich will dir!‹ Damit war aber alles abgetan; auch der Andres wurde in Ruhe gelassen, und so nahm alles einen friedlichen Ausgang. Aber die Tränen, die meine Schwester für den Andres vergossen, und ihr Einschreiten gegen den Tyrannenstock wurden nicht vergessen. Von dem Tag an lag jeden Morgen ein Büschel Veilchen auf ihrem Platz und durchduftete den ganzen Schulraum, und nachher kam noch ein anmutigerer Duft von dem Platz her, denn da lagen große Erdbeersträuße mit den prächtigsten dunkelroten Beeren, wie sie sonst nirgends zu sehen

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