Heidi und andere klassische Kindergeschichten
Trine, ich habe etwas gehört; wer ist in der großen Stube?« fragte Miezchen und hob den Zeigefinger etwas drohend in die Höhe. »Alles Leute mit trockenen Schuhen, und andere kommen nicht hinein. Jetzt wag’s und sitz nieder«, mahnte Trine. Aber anstatt zu sitzen, machte Miezchen einen Sprung und rief: »Jetzt hab’ ich’s wieder gehört, so lacht der Onkel Max.« – »Was?« schrie Otto und war mit einem Satz bei der Tür. – »Wart! wart!« schrie Miezchen nach und wollte gleich mit zur Tür hinaus; aber jetzt wurde es abgefaßt und auf den Stuhl gesetzt, die alte Trine hatte jedoch einen schweren Stand mit den zappelnden Füßchen. Indessen gelang die Arbeit, und nun stürzte Miezchen zur Tür hinaus und hinüber in die große Stube hinein und direkt auf den Onkel Max los, der richtig dort im Lehnstuhl saß. Da war nun ein großer Freudenlärm und ein Grüßen und ein Willkommenrufen in allen Tönen, und in das Gelärm der Kinder stimmte der Onkel Max wacker mit ein, und es währte geraume Zeit, bis sich der Tumult etwas gelegt hatte und die Festfreude einen ruhigen Charakter annahm. Denn ein Fest für die Kinder war die Erscheinung des Onkels jedesmal und aus triftigen Gründen. Der Onkel Max war ihr besonderer Freund; er war fast immer auf Reisen und kam nur alle paar Jahre einmal zum Besuch; dann gab er sich aber mit den Kindern ab, als gehörten sie ihm selber an, und was er für wunderbar herrliche Sachen in allen Taschen für sie brachte, das war gar mit nichts zu vergleichen, denn es war alles ganz fremdartig und zauberhaft. Der Onkel Max war ein Naturforscher und reiste in allen Winkeln der Erde umher und aus jedem brachte er etwas Eigentümliches mit.
Endlich saß die Gesellschaft geordnet um den Tisch herum und die dampfende Schüssel brachte noch völlige Besänftigung in die aufgeregten Gemüter, denn von der Schlittbahn wurde immer ein richtiger Appetit mitgebracht. »So«, sagte der Papa, über den Tisch hinüberblickend, wo an der Seite der Mutter das Töchterchen fleißig arbeitete, »so, so, heut’ hat also das Miezchen keine Hand für seinen Papa, noch hab’ ich keinen Gruß bekommen, und jetzt ist keine Zeit mehr dazu.«
Etwas zerknirscht schaute das Miezchen von seinem Teller auf und sagte: »Aber Papa, aber ich habe es nicht mit Fleiß getan und jetzt will ich gleich –«, und damit stieß sie mit großer Anstrengung den Sessel zurück; aber der Papa rief: »Nein, nein, jetzt nur keine Ruhestörung. Da gib die Hand über den Tisch hin, das übrige wollen wir nachher bestellen; so ist’s recht, Miezchen.« – »Wie hat man eigentlich das Kind getauft, Marie? Ich war zwar auch dabei, aber ich habe keine Ahnung davon, welcher Name in der Kirche ausgesprochen wurde, Miezchen doch nicht?« sagte der Onkel lachend. »Wirklich warst du dabei, Max«, entgegnete seine Schwester, »da du des Kindes Pate bist. Es erhielt damals den Namen Marie; sein Papa machte daraus ein Miezchen, und Otto hat den Namen noch recht unnütz vervielfältigt.« – »O nein, Mama, wirklich nicht unnütz«, rief Otto ernsthaft herüber. »Siehst du, Onkel, das geht nach ganz bestimmten Regeln. Wenn dies kleine nichtige Wesen ordentlich und sanftmütig ist, dann nenn’ ich es Miezchen; das geschieht aber selten, und im gewöhnlichen Leben nenn’ ich es daher Miezi. Wird es aber bös, dann sieht es ganz aus wie ein kleiner Katzenreuel und muß Miez genannt werden, der Miez.«
»Ja, ja, Otto«, tönte es nun zurück, »und wenn du bös wirst, dann siehst du ganz aus wie ein – wie ein –« »Wie ein Mann«, ergänzte Otto, und da dem Miezchen eben kein Vergleich zu Gebote stand, so arbeitete es jetzt um so emsiger an seinem Brei herum. Der Onkel lachte laut auf. »Das Miezchen behält recht«, rief er; »seinen Geschäften obliegen ist besser, als auf Schmähungen antworten.« »Aber, Kinder«, setzte er nach einer Weile hinzu, »nun bin ich mehr als ein Jahr nicht hier gewesen und ihr habt mir noch gar nichts erzählt; was habt ihr denn alles erlebt unterdessen?« Die neuesten Ereignisse erfüllten zunächst den Sinn der Kinder: so wurde gleich mit großer Lebhaftigkeit, meistens im Chor, die eben erlebte Geschichte erzählt, wie der Chäppi das Wiseli behandelt, wie es fror und im Schnee stand und keinen Schlitten hatte und endlich doch noch zu zwei Fahrten kam. »So ist’s recht, Otto«, sagte der Papa; »du mußt deinem Namen Ehre machen, für die Wehrlosen und Verfolgten mußt du immer ein Ritter
Weitere Kostenlose Bücher