Heidi und andere klassische Kindergeschichten
merkwürdige Gewandtheit in Händen und Füßen besaß, gegen welche der Chäppi sich nicht zu helfen wußte. Er schlug nicht zu, aber die geballte Faust hielt er immer in die Höhe und wuterfüllt rief er: »Laß du mich gehen, ich habe nichts mit dir zu tun!« – »Aber ich mit dir«, entgegnete Otto kriegerisch. »Was brauchst du das Wiseli dorthinein zu jagen und ihm noch Schnee anzuwerfen; ich habe dich wohl gesehen, du Feigling, der ein Kleines verfolgt, das sich nicht wehren kann.« Damit kehrte er verächtlich dem Chäppi den Rücken und wandte sich dem Schneefelde zu, wo das bleiche Wiseli noch immer stand und zitterte. »Komm heraus aus dem Schnee, Wiseli«, sagte Otto beschützend. »Siehst du, du klapperst ja vor Frost. Hast du wirklich gar keinen Schlitten und hast nur zusehen müssen? Da, nimm den meinen und fahr einmal hinunter, schnell, siehst du, da fahren sie schon.« Das bleiche, schüchterne Wiseli wußte gar nicht, wie ihm geschah; zwei-, dreimal hatte es zugeschaut, wie eines nach dem anderen auf seinem Schlitten saß, und gedacht: »Wenn ich nur ein einziges Mal ganz hinten aufsitzen dürfte«, wo schon drei auf einem Schlitten saßen. Nun sollte es allein hinunterfahren dürfen und dazu auf dem allerschönsten Schlitten mit dem Löwenkopf vorn, der immer allen anderen zuvorkam, weil er so leicht war und hoch mit Eisen beschlagen. Vor lauter Glück stand Wiseli ganz unschlüssig da und schaute nach dem Chäppi, ob er es nicht vielleicht zu prügeln gedenke zur Strafe für sein Glück. Aber der saß jetzt ganz abgekühlt da, so als wäre gar nichts geschehen, und Otto stand so schutzverheißend daneben, daß ihm der Mut kam, sein Glück zu erfassen; es setzte sich wirklich auf den schönen Schlitten, und da nun Otto mahnte: »Mach, mach, Wiseli, fahr ab«, so gehorchte es, und hinunter ging’s, wie vom Winde getragen. In der kürzesten Zeit hörte Otto die ganze Gesellschaft wieder herankeuchen, und er rief entgegen: »Wiseli, bleib unter den Vordersten und sitz gleich noch einmal auf und fahr zu; nachher müssen wir gehen.« Das glückliche Wiseli setzte sich noch einmal hin und genoß noch einmal die langersehnte Freude. Dann brachte es seinen Schlitten und dankte ganz schüchtern seinem Wohltäter, mehr mit den freudestrahlenden Augen, als mit Worten, dann rannte es eilig davon. Otto fühlte sich sehr befriedigt. »Wo ist das Miezi?« rief er in die sich zerstreuende Gesellschaft hinein. »Da ist es«, ertönte eine fröhliche Kinderstimme, und aus dem Knäuel heraus trat ein rundes, rotbackiges kleines Mädchen, das der Bruder Otto als kräftiger Schutzmann bei der Hand faßte und nun mit ihm dem väterlichen Hause zueilte, denn es war heute spät geworden; die erlaubte Zeit des Schlittens war ziemlich lange überschritten.
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Zweites Kapitel.
Daheim, wo’s gut ist.
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Als Otto und seine Schwester durch die lange, steinerne Hausflur hereinstürmten, trat die alte Trine aus einer Tür und hielt ihr Licht in die Höhe, um besser zu sehen, was dahergetrappelt kam. »So, endlich!« sagte sie, halb zankend, halb wohlgefällig. »Die Mutter hat schon lange nachgefragt, aber da war kein Bein zu sehen, und acht Uhr hat’s geschlagen vor weiß kein Mensch wie langer Zeit.« Die alte Trine war schon Magd in der Familie gewesen, als die Mutter der beiden Kinder zur Welt kam; so hatte sie große Rechte im Hause und fühlte sich durchaus als Glied desselben, eigentlich als Haupt, denn an Alter und Erfahrung war sie die erste. Die alte Trine war durchaus vernarrt in beide Kinder ihrer Herrschaft und sehr stolz auf alle ihre Anlagen und Eigenschaften; das ließ sie aber nicht merken, sondern sprach immer im Tone halber Entrüstung von ihnen, denn das fand sie heilsam zu ihrer Erziehung. »Schuhe aus, Pantoffeln an!« rief sie jetzt, Ordnung gebietend; der Befehl wurde aber gleich darauf von ihr selbst vollzogen, denn sofort kniete sie vor Otto hin, der sich auf einem Sessel niedergelassen hatte, und zog ihm die nassen Schuhe aus. Die kleine Schwester stand unterdessen mitten in der Stube still und rührte sich nicht, was sonst nicht ihre Art war, so daß die alte Trine während ihrer Arbeit ein paarmal hinüberschielte. Jetzt war Otto gerüstet, und Miezchen sollte auf dem Sessel sitzen; aber es stand noch auf demselben Platze und rührte sich nicht. »Nu, nu, wollen wir warten, bis es Sommer wird, dann trocknen die Schuhe von selbst«, sagte die Trine, auf ihren Knieen harrend. »Bst! bst!
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