Heidi und andere klassische Kindergeschichten
»wart nur, du mußt deinen Lohn schon haben! Wart du nur, bis du in die Fabrik kommst, es geht jetzt nicht mehr lang’, dann wirst du’s erfahren, wart nur!«
Unbestimmte Schrecken stiegen in Elslis Einbildung auf; es riß nicht mehr, ganz folgsam stand es da und besann sich. Nach einer kleinen Weile sagte es: »So würde ich dann so anfangen: ›Hochgeehrte Herren und Brüder! Da wir nun so schön gesungen haben, so wollen wir uns nun darüber freuen und ein großes, langes Fest feiern –‹«
Wie ein Pfeil schoß hier das Elsli davon, denn es hatte wahrgenommen, daß im Eifer des Zuhörens der Feklitus seine Faust aufgemacht hatte. Er schaute dem Elsli grimmig nach, es war aber schon zu weit weg, um verfolgt zu werden. So ging er endlich nachdenklich seiner Wege.
Am Sonntag sollte das große Sängerfest stattfinden, denn bis dahin hatte die Tante versprochen, die Fahne fertig zu machen. Vorher aber sollte eine Probe ausgeführt werden, um zu hören, wie die Rede abgehalten würde, und auch um die Bewegung des Zuges zu ordnen. Anstatt der Fahne könnte für einmal ein Tischtuch an die Stange befestigt werden, die Tante würde schon eins liefern. Am Samstagnachmittag sollte die Probe abgehalten werden, so hatte Oskar mit seiner Gesellschaft festgesetzt.
Am Samstag war denn auch kaum das nötige Essen am Mittagstisch hinuntergeschluckt, als Oskar schon unruhig umherschaute, ob er wohl bald aufstehen und sich entfernen dürfe. Noch unruhiger gebärdete sich Emmi, die schon von Anfang an ihre Gedanken ganz anderswo als bei ihrer jetzigen Beschäftigung hatte, denn alles schluckte sie wie im Fieber herunter, schaute alle Augenblicke nach der Wanduhr und gab einmal ums andere verkehrte Antworten. Sobald der letzte Bissen von des Vaters Teller verschwunden war, fragte sie dringlich: »Kann ich gehen, Mama?«
»Ich auch, Mama?« setzte Oskar blitzschnell ein. Es wurde erlaubt.
»Was müssen denn die beiden wieder gründen und stiften, daß sie’s so eilig haben?« fragte der Vater.
Emmi war schon zur Tür hinaus.
»Morgen wirst du’s schon sehen, Papa«, sagte Oskar mit vielversprechender Miene; »heute noch wird die Rednerbühne errichtet und der Festumzug geordnet. Du wirst gewiß erstaunen. Willst du auch die Festrede von Feklitus hören, Papa?«
»Danke bestens! Am Abend will ich dann mit Mutter und Tante auf dem Festplatz erscheinen. Gehörst du auch zu den Festfeiernden, Fred?« fragte der Vater.
»Nein, ich habe Nützlicheres zu tun«, entgegnete ernsthaft der Fred. »Es ist nützlicher, den geringsten Sumpffrosch zu finden und kennen zu lernen, als tausend Sängerfeste zu feiern.«
Das Rikli rückte schnell ein wenig von Fred weg, vielleicht wollte er gleich einen von den Fröschen als Muster zeigen. Oskar warf dem Bruder einen mitleidigen Blick zu und ging.
Friedlich saßen am Nachmittag Mutter und Tante im Garten; vor ihnen auf dem Tisch stand der große Flickkorb und während die fleißigen Hände die Schäden alle der großen und kleinen Strümpfe gutmachten, besprachen sie die Ereignisse des Tages und das Leben und Wesen der Kinder, für die sie dieselbe Liebe und dasselbe Interesse hatten.
»Es ist merkwürdig, wie die Dinge sich wiederholen in diesem Leben«, sagte jetzt die Mutter. »Wenn die Kinder so erzählen, wie der Feklitus so häufig dem Elsli nachrennt, wenn keiner begreift, warum, stehen mir immer die langvergangenen Zeiten vor Augen. Du weißt doch noch, wie Elslis Mutter, das lebensfrohe Gritli, beständig von dem kurzen, dicken Fekli verfolgt, so leicht und lustig dahinrannte und sich immer von Zeit zu Zeit umkehrend, ihm mit Lachen zurief:
›Faß mich ab! Faß mich ab,Fekli mit dem Bärentrab!‹«
Die Tante erinnerte sich dieser Szenen sehr gut; sie mußte herzlich lachen, als sie ihr wieder so deutlich vor Augen traten. »Das Gritli hatte freilich seinen Sang nicht selbst gedichtet«, fügte sie bei, »unser Bruder hatte ihm denselben eingeblasen; du erinnerst dich doch, wie er sich an diesen vergeblichen Jagden ergötzte?«
Die Mutter konnte nicht weiter antworten, denn in diesem Augenblick erhob sich ein so Mark und Bein durchdringendes Geschrei, daß die beiden Frauen ganz zusammenschraken.
»Es ist wieder das Rikli, das ist ganz sicher«, sagte die Mutter, die erst samt der Tante aufgesprungen war, sich nun aber wieder hinsetzte und die Tante auch dazu aufforderte. »Wir müssen wirklich dableiben«, fuhr sie fort; »das Kind soll nicht meinen, daß es für jedes
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