Heidi und die Monster
aussetzte, eine Reise zu tun. Längst wurde man der Unaussprechlichen im Eidgenössischen nicht mehr Herr. Jeder Kanton, jede Stadt und jedes Dorf kämpfte verzweifelt gegen die widernatürliche Wucherung der Untoten, die über die Lebenden herfielen. Die Erfolge blieben vereinzelt, an einen Sieg über das Heer der Niänenüütli war nicht mehr zu denken. Wie viele Opfer galt es schon zu beklagen! Noch beklagenswerter war, dass jedes Opfer sich sogleich in einen neuen Feind verwandelte, einen neuen Glaarä, neuerliche Gefahr. Über Nacht wurde aus einem Vater, einer Tante, einem Sohn ein gieriger Niänenüütli, was den Kampf noch bitterer machte. Wer stößt seiner Lieblingsschwester gern das Schwert in die Brust, wer durchtrennt den Hals des Geliebten, dass dessen Blut zäh hervorquillt und sein Auge bricht? Anders jedoch wurde man der Glaarä nicht Herr, anders fanden ihre Seelen keine Ruh, und so war das Land von einem ständigen Schlachten und Metzeln erfüllt, das einem die Freude am Leben vergällte. Wer aus dem Haus trat,
um sein Frühstücksbrot einzuholen oder nach dem Wetter zu sehen, war gewärtig, statt des Regenschirms das Schwert zu zücken, um sich eines Überfalls zu erwehren.
Die Städte hatten neben der Müllabfuhr einen neuen Dienst eingerichtet: Wie zu Zeiten der schwarzen Pest zogen Wagen durch die Gassen, auf die Vermummte die Überreste der Niänenüütli luden. Außerhalb des Stadtwalls wurden sie in Gruben geworfen, mit Kalk bestreut und zugeschüttet. Doch wie überall, wo der Mensch etwas ordnet, ließen sich Unredlichkeit und Heimtücke nicht verhindern. Nicht selten kam es vor, dass ein Mann seinen unliebsamen Nachbarn, eine Frau ihren verachteten Gatten heimtückisch ermordete, sein Gesicht grau anstrich und den Toten zu den Untoten warf. Die Behörde war darum gezwungen, vor der Vernichtung eines Glaarä dessen Entmenschlichung durch ein zuverlässiges Verfahren zu prüfen. Bevor ein Niänenüütli auf den Karren geworfen wurde, stach ein Kommunalangestellter sein Messer in dessen Haut. Drang grauer Schlick hervor, war es ein rechtens gemetzelter Unaussprechlicher; zeigte sich rotes oder geronnenes Blut, ging man von einer Straftat aus. Es erwies sich häufig als schwierig, vorsätzliches Töten nachzuweisen, denn wer vermag lange abzuwägen, ob er einem Untoten oder bloß jemandem mit fahler Haut gegenübersteht? Missverständnisse gab es zu jener Zeit viele.
Von alledem wusste das Kind von der Alp nichts. Verstrickt in widerstreitende Gefühle, voller Fragen, auf die Dete nur mürrisch antwortete, gelangte Heidi vom Berg herab bis Maienfeld, dem hübschen Graubündener Städtchen. Dort bestieg es zum ersten Mal im Leben die Dampfeisenbahn, nicht ohne die Nadelprobe über sich ergehen zu lassen.
So derb und tapsig die Niänenüütli auch schienen, gab es unter ihnen Ausgefuchste, die sich tückischer Tricks bedienten. Ein bisschen roten Lehm ins Gesicht gerieben, eine Kappe tief in die Stirn gezogen, so war es manchem gelungen, sich als Mensch zu tarnen und zwischen die Reisenden zu mischen, auf der Fahrt plötzlich die Maske fallen zu lassen und schrecklich unter den Überrumpelten zu wüten.
Dete erklärte Heidi, dass es nun gestochen würde, und ehe das Kind sich’s versah, packte ein Mann in Schaffneruniform Heidis Hand und trieb eine versilberte Nadel in ihren Finger.
»Au, lass mich los, ich sag’s dem Großvater!«
Der Schaffner sah das Tröpfchen rotes Blut hervorquellen, das bewies, hier stieg ein Menschenkind ins Abteil dritter Klasse. Dete wies Heidi an, sich zu setzen und wegen der Kleinigkeit nicht so einen Lärm zu machen. »Sei still. Denk nur, was du deinen Lieben für schöne Sachen aus Frankfurt mitbringen kannst.«
Der Gedanke war Heidi noch gar nicht gekommen. »Ja wirklich, was gibt es denn dort?«
Dete bemerkte erleichtert, dass sich das Stahlross schnaufend in Bewegung setzte. »Einfach alles.«
»Könnte ich zum Beispiel Peters Großmutter weiße Brötchen mitbringen?« Munter schaute Heidi die Tante an. »Sie kann das harte Schwarzbrot nicht mehr beißen, sie hätte ihre Freude daran.«
»Natürlich, Brötchen gibt es in Frankfurt, so viel dein Herz begehrt.«
»Lass uns geschwind fahren, Tante, dass wir nach Frankfurt
kommen und ich bald wieder daheim bin mit den Brötchen!«
Sie rollten aus Maienfeld hinaus. Durch das Fenster sah man, dass der Bahnhof einer Festung glich. Mauern und Stacheldraht waren zum Schutz der Reisenden errichtet worden,
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