Heidi und die Monster
soll aufgetragen werden«, befahl sie Sebastian.
Der Diener öffnete die Flügeltür, damit der Stuhl hinübergeschoben werden konnte. Währenddessen schaute Heidi ihn unverwandt an.
»So wie der Großvater sein Gestrüpp über den Augen, hast
du das Gestrüpp überm Mund«, sagte es sinnend. »Wenn das nicht wäre, sähst du dem Geißenpeter ähnlich.«
»Dem Geißen…« Sebastian blieb das Wort im Mund stecken.
Entsetzt schlug die Rottenmeier die Hände zusammen. »Jetzt duzt mir der Balg noch die Bedienten! Dem Wesen fehlen alle Urbegriffe!«
Klara wurde an ihren Platz bei Tische gefahren, die Rottenmeier setzte sich daneben und winkte Heidi, es solle den Stuhl gegenüber einnehmen. Ein Glöcklein schellte, von unten wurde das Mittagessen gebracht. Sebastian trat mit der Vorlegeplatte seitlich an Klara heran, tat ihr auf und wiederholte es bei dem Fräulein. Schließlich kam er zu Heidi. Neben ihrem Teller lag ein weißes Brötchen.
»Kann ich das haben?«, fragte es.
Bevor Sebastian ihr von den kleinen Fischen servierte, schaute er zur Rottenmeier, wie sie die Frage aufnehmen würde. Sie führte den Bissen zum Mund und nickte, ohne Heidi anzusehen. Augenblicklich ergriff das Kind sein Brötchen und ließ es in der Tasche verschwinden. Stumm und unbeweglich blieb Sebastian neben Heidi stehen, denn reden durfte er während des Vorlegens nicht, und weggehen durfte er auch nicht.
Heidi schaute ihn eine Zeitlang verwundert an, dann fragte es: »Soll ich von dem auch essen?« Sebastian nickte. »So gib mir.«
Bevor er vom Gemüse auftun konnte, fuhr die Rottenmeier dazwischen. »Stell er die Platte auf den Tisch und komm er nachher wieder.«
Sebastian verschwand sogleich.
»Ich muss dir die einfachsten Begriffe beibringen, Adelheid, das merke ich schon«, sagte Rottenmeier mit strengem Gesicht. »Vor allem ist zu bemerken, dass du bei Tisch nicht mit dem Bedienten sprichst, auch sonst nicht, außer du hast einen Auftrag an ihn zu richten. Dann nennst du ihn Sie oder Er. Das Nämliche gilt für Trojan, den obersten Hauswächter. Mich nennst du so, wie du mich von allen nennen hörst.«
»Zu mir sag einfach Klara.« Das Mädchen führte einen winzigen Bissen Fisch zum Mund, so klein, dass Heidi nicht verstehen konnte, was es daran zu essen gab. Sie selbst schaufelte das bisschen auf ihrem Teller rasch in sich hinein.
Nun folgte eine Menge von Verhaltensregeln: Dass man nur in Begleitung von wenigstens zwei Wächtern auf die Straße treten dürfe, über das Ordnunghalten und Türenabsperren und dass vor der Nachtruhe Trojan und seine Männer das Haus inspizieren würden. Über dem komplizierten Reglement fielen Heidi die Augen zu, denn es hatte eine lange Reise gemacht und so viel Neues geschaut wie in seinem ganzen Leben nicht.
»Denk daran, Adelheid«, sagte die Rottenmeier. »Hast du alles begriffen?«
»Heidi schläft«, erklärte Klara belustigt, die Essenszeit war ihr noch nie so kurzweilig verflossen.
»Es ist doch unerhört, was man mit diesem Kind erlebt!« Fräulein Rottenmeier klingelte heftig, Sebastian kam.
Trotz des Lärms erwachte Heidi nicht, fühlte sich nicht einmal von ihm emporgehoben. Sie wurde ins Treppenhaus und von dort in ein Eckzimmer getragen, das für die Gespielin
Klaras eingerichtet worden war. Dort schlief Heidi ohne Unterlass den ganzen Nachmittag und die kommende Nacht bis zum Morgen.
Kapitel 10
Anders als auf der Alp, wo nur wenige wohnten, lebten in der Stadt viele Menschen, doch auch der Untoten viele. Bürger wie die Sesemanns konnten sich hinter hohen Mauern, bewacht durch kräftige Söldner, einigermaßen sicher fühlen. Nicht aber der gemeine Frankfurter, dem die Mittel zu seinem Schutz fehlten, der dennoch von einem Ort zum anderen musste, zur Arbeit, nach Hause oder um einen Besuch zu machen. Auch wenn die Stadtverwaltung die Schutzmänner verdreifacht und dreimal so gut bewaffnet hatte, auch wenn die Ordnungskräfte zu dritt auf den Straßen patrouillierten, wusste jeder, es verging keine Nacht, ohne dass viele den Wiederkehrern zum Opfer fielen.
Bedauernswert waren solche, die nachts zur Arbeit mussten, deren Arbeitsplatz gar die Straße war. So sah man unweit des Sesemannhauses eine junge Frau um ihr Leben rennen. Sie war von schlankem Wuchs, hatte sich aber derart geschnürt, dass ihre Brust hübsch zur Geltung kam; ihr brennend rotes Haar floss in Wellen vom Haupt auf die Schultern. So herausgeputzt wollte sie männlichen Blicken
gefallen. Das
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