Heidi und die Monster
Nachthaube. »Ich habe einen tiefen Schlaf.«
»Was ist mit Klara?« Der Herr zeigte auf das besinnungslose Kind.
»Wach auf, Klara«, sagte Heidi, die sich den Zustand der Freundin nicht erklären konnte.
»Herunter vom Bett, Adelheid.« Streng nahm die Rottenmeier das Kind bei der Hand.
Nun wurde es Sesemann zu viel. »Hinaus! Allesamt hinaus, bis der Doktor kommt! Antreten unten, das Personal, ich verlange Auskunft. Lasst meine Tochter allein!«
Die Erste, die dem Befehl Folge leistete, war Tinette. Heidi wandte den Blick nicht von Klara. Zögernd blieb auch die Rottenmeier stehen, schließlich war sie nicht irgendeine Bediente, sondern Stellvertreterin Sesemanns während dessen Abwesenheit.
»Bin ich gehört worden!« Der Hausherr duldete keinen Widerspruch. »Erwarte sie unten meine weiteren Befehle.«
Nun folgte auch das Fräulein, Heidi hinausführend. Die Tür wurde geschlossen. Schwer sank Sesemann auf Klaras Bett und betrachtete das schmale Gesicht, dunkle Ringe waren unter ihren Augen.
»Ich bin zu selten daheim«, sagte er leise. »Ich kümmere mich nicht genug um dich. Aber, bei Gott, seit du nicht mehr
gehen kannst und in diesem …« Er machte eine wegwerfende Geste. »… in diesem Ding sitzen musst, wird es mir jedes Mal schwerer, nach Hause zu kommen. Es bricht mir das Herz, dich so zu sehen.«
»Es ist nur vorübergehend«, ertönte eine markante Stimme aus dem Erker.
Sesemann fuhr hoch. Niemand hatte das Zimmer betreten, der Winkel lag im Dunkel. »Wer spricht?«
Professor Marus, in Gestalt des jungen Hauslehrers, trat aus der Finsternis.
»Wer sind Sie nun schon wieder?«, erkundigte sich Sesemann, ein wenig erschrocken über den Auftritt.
Der Professor stellte sich vor.
»Und was machen Sie um diese Uhrzeit in meinem Haus?«
Der Professor erklärte auch das. Sesemann stutzte: Obwohl sein Gegenüber dem Aussehen nach kaum zwanzig war, strahlte er die Erfahrung eines wesentlich Älteren aus. Dass der Vampir sein Alter in Jahrhunderten zählte, war Sesemann selbstredend unbekannt.
»Was meint er mit vorübergehend ?«
»Klaras Lähmung«, antwortete Marus. »Sie rührt nicht von einer Verletzung her, ist lediglich eine Blockade des Geistes.«
»Das ist mir bekannt«, nickte Sesemann. »Doch wie die Blockade gelöst werden soll, konnte bis heute kein Fachmann beantworten.«
»Es kommt auf die Methode an«, erwiderte Marus geheimnisvoll.
Sesemann musterte ihn. »Er ist Hauslehrer. Woher will er mehr wissen als die gelehrtesten Professoren auf dem Gebiet?«
»Mit Verlaub stamme ich aus einer Gegend, wo Wunderheilungen häufig sind.«
»Ich kenne jeden Winkel des Kontinents. Welche Gegend sollte das sein?«
»Das Land südlich der Karpaten.«
Abschätzig wiegte Sesemann den Kopf. »Zigeunerland. Will er mir mit Hokuspokus kommen? Da warte ich lieber auf den soliden Rat unseres Hausarztes.«
»Klaras momentaner Zustand ist ebenfalls keine Krankheit.« Marus trat näher.
»Was sonst?«
»Es ist die Beeindruckung einer sensiblen Seele. Ich mutmaße, Klara saß spät über einem Buch und mag davon so in Bann gezogen worden sein, dass sie die Besinnung verlor.«
»Dummes Zeug«, erwiderte Sesemann. »Das Kind liegt in tiefer Ohnmacht.«
»Nun, so tief auch wieder nicht.« Ehe der Hausherr es sich versah, hatte Marus die Schläfen der vom Absinth Benebelten berührt. Er hauchte ihr seinen eiskalten Atem entgegen.
»Was tut er?« Sesemann wollte eingreifen, da sog Klara gierig die Luft ein, atmete wie befreit und schlug die Augen auf. Sogleich trat ein rosiger Glanz in ihr Gesicht.
»Seht Ihr?« Marus zog sich respektvoll zurück. »Schon ist sie wieder die Alte.«
»Klara, Mädchen, Kind, was war mit dir?« Vor Erleichterung lachend beugte sich der Vater über die Tochter.
»Papa«, hauchte sie. »Ach wie schön, mein Papa ist heimgekommen.«
»Ja, Klara, Kind, ich bin endlich wieder da. Wie geht es dir denn?«
»Ausgezeichnet. Mir geht es …« Sie sah sich um. »… so gut, wie schon lange nicht.«
»Und bewahrst du eine Erinnerung an das soeben Durchlebte?«, fragte er, da sie den Hauslehrer mit ungewohntem Ausdruck musterte.
»Erinnerung? Ich liege im Bett. Was sollte ich zur Nacht denn anderes tun?«
»Schon recht.« Sesemann seufzte. »Was solltest du zur Nacht wohl anderes tun?« Mit dankbarem Blick schaute er zum Professor. Der Vampir nickte lächelnd.
»Herr Kandidat, Sie schlafen noch nicht?«, fragte Klara. In ihren Augen lagen Freude und
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