Heidi und die Monster
habe immer geglaubt, die Ameisen sind nur bei uns im Wald. Wenn sie im Sommer hohe Hügel bauen, weiß der Förster, es wird ein strenger Winter. Was ist denn das, die Wüste, Herr Kandidat?«
»Mit dem Lesen verhält es sich wie mit einer Zwiebel«, lächelte Marus. »Du schälst eine Schale ab, und die nächste tut sich auf. Fragen und Antworten und immer so weiter, bis sich die ganze Welt vor dir erschließt.«
»Die ganze Welt«, wiederholte Heidi. »Wenn ich das dem Peter erzähle, dass sich in dem Buch die ganze Welt versteckt, wird er Augen machen. Dann nehmen wir die ganze Welt einfach mit auf die Alp.«
»So ist es«, antwortete der Professor mit leichter Unruhe, denn die Morgensonne war weitergerückt und schien mittlerweile durch Heidis Fenster. Sie kitzelte den Vorhang und den Boden und die Tischdecke und berührte bereits das Buch mit der Ameise.
Auch wenn ein mächtiger Vampir wie Marus die Kraft hatte, der Sonne eine Zeitlang zu widerstehen, und sich, geschützt durch Hut und dunkle Brillengläser, sogar tagsüber im Freien bewegte, schwächte ihn das Licht beträchtlich und verursachte ihm Pein. Die Geschöpfe jedoch, die Marus durch seinen Biss erschuf und die noch im Zwischenreich von Leben und Vorhölle vegetierten, wurden von der Sonnenmacht verdampft und pulverisiert; er hatte es oft mit angesehen.
Gerade als der Vampir das Buch zuschlagen und ins abgedunkelte Studierzimmer zurückbringen wollte, klopfte es heftig. Marus meinte, es sei die aufdringliche Rottenmeier, doch eine junge Stimme drang herein.
»Was gibt es für Heimlichkeiten?«, rief Klara und stieß die Tür auf.
»Sieh nur, Klara, das ist eine Ameise! Das hab ich ganz von allein gelesen!« Heidi lief der Freundin entgegen.
Die Tochter des Hauses reagierte schroff. »Warum hier und nicht im Studierraum? Warum heimlich und außerhalb der Zeit?«
Es war für den Professor leicht zu erkennen, dass Klara eifersüchtig war, weil er Heidi bevorzugt hatte und eine Einzelstunde mit ihr abhielt. Er ging zu dem Mädchen im Rollstuhl und streckte ihr die Hand zur Begrüßung hin. »Wir wollten gerade zu dir hinüberkommen.«
Klara nahm seine Hand, nicht gesittet, wie man erwarten würde, sie riss sie an ihre Wange und hielt sie dort fest. Dabei sah sie den Kandidaten sehnsüchtig und verzweifelt an. In Klaras Gesicht standen die Spuren des köstlichen Giftes, das sie vergangene Nacht gekostet hatte, ihre Augen spiegelten den verführerischen Nektar wider, den Marus ihr eingeflößt.
»Er ist mein Kandidat«, flüsterte Klara. »Nur meiner, meiner allein.«
»Gehen wir nach drüben, und beginnen wir mit dem Unterricht«, gab der Professor harmlos zurück. Er machte einen Bogen um den Sonnenstrahl, der das Zimmer wie ein Keil teilte, klappte das Buch zu und schritt voran.
»Welches Tier nehmen wir heute durch?«, rief Heidi und sprang ihm nach.
»Ich will euch die unglaublichen Fähigkeiten der Fledermäuse erläutern.«
Als er sah, dass Klara mit dem Rollstuhl nicht so rasch hinterherkam, packte er die Griffe und stieß sie durch den
Korridor. Klara verdrehte den Kopf, um den Kandidaten anzuschauen, in ihrer Miene waren Leid und Hoffnung, Verwirrung und nie gekannte Verliebtheit.
Wie hatten sich die Nächte im Sesemannhaus doch verändert! Es schien, als ob alle Bewohner nur darauf warteten, dass das Tageslicht schwand und eine schützende Dunkelheit sich über die Zimmer legte. Wenn früher bald Ruhe eingekehrt war, herrschte nun geschäftiges Treiben, wobei eins nichts vom anderen wissen wollte; alles fand in großer Heimlichkeit statt.
Da sah man Lichtstreifen unter so mancher Tür. Im Studierzimmer fand allnächtlich ein Treffen des Professors mit der Tochter des Hauses statt. Klara machte sich nicht mehr die Mühe, den Morgenmantel überzustreifen, im Nachthemd suchte sie den Lehrer auf, der sie bereits mit dem Göttergift erwartete. Kurz darauf tat die grüne Fee ihre enthemmende und benebelnde Wirkung. Wenn Klara unter dem Einfluss des Absinth zu fliegen glaubte, erhöhte Marus die Illusion noch dadurch, dass er sie aus dem Stuhl auf seine Arme hob und mittels der Macht, die ihm gegeben war, tatsächlich schweben ließ. Im flatternden Hemd flog Klara durch das Zimmer, mit ausgebreiteten Armen und vor Lust jauchzend.
Sobald seine Vorbereitungen mit Heidi abgeschlossen sein würden, hatte der Professor beschlossen, sich Klaras zu erbarmen und sie durch einen Biss zu adeln, der ihr die Möglichkeit geben würde, sich aus
Weitere Kostenlose Bücher