Heidi und die Monster
Verdammnis.
Der Öhi hatte dem Jungen alles Geld mitgegeben, das er während der Jahre mit dem Verkauf seines Käses erwirtschaftet hatte. Das reichte für ein Bahnbillett dritter Klasse von Maienfeld nach Frankfurt. Bis Karlsruhe hatte sich Peters Reise wie erwartet gestaltet, kurz nach der Kaiserstadt war der Zug zum Stillstand gekommen. Vor ihnen war nämlich der Paris-Express entgleist und hatte große Verwüstung angerichtet. Man wusste zu erzählen, dass es einer Gruppe von Wiederkehrern gelungen war, auf die Lokomotive zu springen und den Lokführer zu überfallen. Der Heizer hätte noch
einige der Unaussprechlichen zur Strecke gebracht, sei aber schließlich überwältigt und bei lebendigem Leib gefressen worden. Den Lokführer habe solches Grausen erfasst, dass er vom rasenden Zug gesprungen sei und sich dabei den Hals gebrochen habe. Die Lokomotive sei entgleist und habe alle Waggons und Fahrgäste ins Verderben gerissen.
Kurz entschlossen war Peter darauf die Gleise entlang in die nächste Ortschaft gelaufen und hatte auf der Strecke zweimal gegen deutsche Niänenüütli zu kämpfen gehabt, die ihm schwächlicher vorkamen als die Exemplare bei ihnen daheim. Dem Angriff eines Glaarä, dem der halbe Hinterkopf fehlte, war er nur dadurch entkommen, dass er seine Jacke in dessen Fingern gelassen hatte.
Frierend war Peter um Mitternacht im Dorfe Trittlingen angekommen und hätte sich gern schlafen gelegt, doch die Sorge trieb ihn weiter. Er besaß Mut genug, an ein Haus zu klopfen und nach dem Weg zu fragen. Unversehens schaute er in den Lauf einer Schrotflinte. Bei Peters Dialekt mutmaßte der besorgte Familienvater eine neue Abart von Wiederkehrer und wollte ihn über den Haufen schießen. Beherzt zog Peter sein Taschenmesser und stieß die Spitze in seinen Daumen. Gesundes Blut quoll hervor, der Familienvater wusste nun, er hatte einen Menschen vor sich.
»Wirst nicht weit kommen«, sagte er. »Nachts sind sie überall. Das Morgengrauen erlebst du nicht. Bleib hier, schlaf im Stall.«
Peter ließ sich nicht beirren und machte sich wieder auf den Weg. Der Rest der Nacht wurde zum Schauderlichsten, das er je durchlebt hatte. In Scharen waren die Niänenüütli unterwegs; im Schein des Mondes sah Peter sie über Hügelkuppen,
am Wiesenrain und am Wegesrand auftauchen. Dem flinken Burschen, der mit den Geißen auf felsiger Höhe um die Wette sprang, gelang es eine Zeitlang, den Horden zu entlaufen. Doch immer neue brandeten heran, dass Peter glaubte, auf deutschem Boden gebe es mehr Monster als Menschen.
Schlimmer als die eigene Not kam es ihn an, dem Gemetzel zuzuschauen, das die Niänenüütli anrichteten. Wo die Bewohner nicht geflohen waren, zerrten die Unaussprechlichen Mensch und Vieh aus den Häusern; im Laufen sah Peter, wie eine alte Frau im Nachthemd aus dem Fenster geworfen und sogleich verspeist wurde. Pferdegerippe lagen ebenso auf freiem Feld wie Menschenknochen. Peter schaute eine wilde Jagd, als eine junge Mutter, ihren Sohn auf dem Arm, über welliges Land zu entkommen suchte. Sie erklomm die nächste Kuppe, doch ihre Last wurde zu groß, die Verfolger waren ihr auf den Fersen. Kurz nachdem die Mutter hinter der Anhöhe verschwunden war, hörte Peter ihren schrecklichen Todesschrei. Dem Buben stellten sich alle Haare auf, er hastete weiter.
Es kam einem Wunder gleich, dass Peter den nächsten Morgen erblickte. Ihm widerfuhr sogar noch ein Glück. Ein Kutscher hatte Auftrag, seine Herrschaft in Frankfurt abzuholen. Knapp hinter Pfungstadt entdeckte er auf der Straße einen Knaben, der zerfetzt und erschöpft dahintorkelte. Aufgrund seines Ganges hielt der Kutscher ihn für einen Wiederkehrer, schwang das Schwert und wollte ihn vom Wagen aus enthaupten. Rechtzeitig drehte Peter sich um, winkte und bat, mitgenommen zu werden. An Peters frischen Wunden erkannte der Kutscher, dass da einer mit nichts als dem
Leben davongekommen war. Doch dachte er nicht daran, zu halten und einen aufzulesen, der womöglich gebissen worden war. Der Kutscher schnalzte und trieb seine Pferde an.
Da griff der Peter ins Zaumzeug und klammerte sich am Hals des Rappen fest. »Erbarmen!«, schrie er. »Ein Niänenüütli bin ich nicht!« Die Füße des Jungen schleiften im Staub, das Pferd riss den Kopf empor und schnaubte wild. Dem Kutscher ward bang, dass die Rosse ausbrechen könnten, also zügelte er und brachte sie zum Stehen.
»Verdammt mutig von dir, dich vor die Biester zu werfen«, sagte der Grauhaarige.
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