Heidi und die Monster
Spitzenbluse und Dutt an Freundlichkeit gewonnen. Das neue Stubenmädchen war eine reine Augenweide, und das drollige Kind aus den Bergen setzte dem fröhlichen Hausstand die Krone auf. Dies war gewiss auch dem jungen Kandidaten zuzuschreiben,
dem die Weiberschar aus der Hand zu fressen schien, der aber kein Fant oder Geck war, sondern ein ernstzunehmender, fast düsterer Mensch.
»Seit Heidi da ist und der Herr Kandidat«, sagte Klara, »begegnet mir jeden Tag etwas Neues, und ich lerne unendlich viel.«
»Das freut mich zu hören.« Sesemann bemerkte, dass Klaras Lebendigkeit sich auch in ihrem Körper ausdrückte. War sie sonst in ihrem Stuhle mehr gehangen als gesessen, richtete sie ihre Büste hoch auf, und selbst die Beine, so schien ihm, waren nicht mehr vollständig leblos. Wenn das so ist, dachte er, befindet sich alles in schönster Ordnung, und ich kann meinem Plan gemäß unbesorgt heute Nachmittag weiterreisen.
»Sebastian soll meine Tasche holen«, sagte er Richtung Rottenmeier. »Es könnte sein, mein Kind, dass ich ein paar schöne Sachen aus fernen Städten für dich mitgebracht habe.«
»O Papa, wie lieb von dir!« Klara bediente das Schwungrad, fuhr zu ihm und umarmte den Vater.
Heidi freute sich für die Freundin, auch darüber, dass Klaras Zustand der vergangenen Nacht keine Folgen hinterlassen hatte. In all der Aufregung, die der Besuch des Herrn Sesemann auslöste, hegte Heidi allerdings einen heimlichen Kummer, dass nämlich der Unterricht ausfallen könnte. Um diese Zeit befanden sie sich sonst im Studierzimmer und lernten, heute aber, abgelenkt durch Geschenke und Wiedersehensfreude, schien niemand ans Abc zu denken. Heidis wahres und einziges Anliegen war seit dem Gespräch mit dem Kandidaten das Lesen geworden. Sie wollte, sie musste es gut erlernen, vor allem in kürzester Zeit. Denn sobald sie
es vollständig beherrschte, das hatte der Kandidat versichert, würde sie heim dürfen, hinauf zum Peter, ein Buch in der Tasche, aus dem sie ihm den Sinn vorlesen wollte, der sie beide sodann über die Alp und die höchsten Berge hinaustragen würde, bis in den Himmel! Dieser Wunsch war so innig in Heidis Gemüt versenkt, dass es auf seinem Stuhl ganz unruhig wurde, immer wieder zum Kandidaten hinschaute, ob er nicht endlich mit ihm das Abc durchgehen wollte. Die Buchstaben, früher feindliche Gesellen, waren zu Heidis Gefährten geworden. Sie würden ihr den Freund und seine Geißen, die geliebte Natur und zu guter Letzt die Gegenwart des Großvaters wiederbringen.
In diesem Augenblick erwiderte der Hauslehrer Heidis Blick. Doch er schien die allgemeine Freude nicht zu teilen, seine Pupille war dunkel, sein Gesicht ernst. Er wirkte nachdenklich, beinahe traurig. Heidi lief hin und schaute zu ihm hoch. Da nahm der schöne junge Mensch, der wie immer Schwarz trug, Heidis Hand und hielt sie ganz fest. Ein Gefühl durchströmte sie, wie sie keines kannte. Das war nicht etwa ein schönes Gefühl, sondern eins, das sie in einen Abgrund schauen ließ, der schaudern machte, sie zugleich aber unwiderstehlich anzog.
»Ich kann schwerlich ausdrücken, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Herr Sesemann zu Marus. »Sie machen mein Mädchen froh, das hatte ich kaum noch zu hoffen gewagt.« Er legte den Arm um Klaras Schulter. »Machen Sie weiter so, mein Bester, geben Sie dem Kind jede erdenkliche Freude.«
Professor Marus verbeugte sich und versicherte, das werde er tun. Insgeheim nahm er sich vor, es diese Nacht schon zu tun. Die Zeit war reif, heute noch würde er Heidi zu seiner
Gefährtin machen und ihr als Vampirkind ein neues Dasein schenken, ein Leben, das nicht mehr durch die Bande der Zeit beengt war. Gemeinsam würden sie die Welt bereisen und, wo sie hinkamen, die Macht der Dunkelheit vermehren. Heidi würde seinesgleichen werden, endlich würde sie ganz ihm gehören.
Wie sollte der Professor wissen, dass zur gleichen Zeit jemand unterwegs war, der ihm unbedingt einen Strich durch die Rechnung machen wollte. Bedachte man die Jugend des Burschen, war es erlaubt, an der Durchführung seines Planes zu zweifeln. Das kümmerte Peter nicht. Er hatte vom Alm-Öhi genauen Auftrag erhalten, wie vorzugehen sei, und war auch mit dem nötigen Werkzeug versorgt worden. Der Großvater selbst hatte auf dem Berg bleiben müssen, um wichtige Vorbereitungen zu treffen. Ihrer beider Anstrengung sollte nicht nur die Rettung Heidis erwirken, sondern auch die Bewahrung der Mutter des Geißenpeter vor der
Weitere Kostenlose Bücher