Heidi und die Monster
ich mir vorher etwas ausdenken, dann kann ich es erst hinschreiben.« Es dachte nach, aber nichts wollte ihm einfallen.
Nach Kurzem schweiften seine Gedanken ab, es sah die Wiese unterhalb der Alphütte vor sich, die schiefen Tannen, sah den alten Mann auf der Bank sitzen und seine Pfeife rauchen. Auf diese Weise wurde das erste sinnvolle Wort geboren. Heidi beugte sich über das Papier und schrieb mit größter Sorgfalt Großvater. Als es beim V angelangt war, hörte es aus dem Haus ein Geräusch, als ob jemand im Dunkeln etwas umgestoßen hatte. Vom V schrieb Heidi zügig weiter zum A .
In der Küche hatte Dete einen Kuchen im Backrohr. Eben wollte sie danach sehen, als sie dem jungen Hauslehrer in die Arme lief.
»Herr Jesus, hat er mich erschreckt!«
Dete fand es schade, dass der hübsche Kandidat so auffällig wenig aß, weshalb er sich nie zu ihr in die Küche verirrte. »Hat er vielleicht Hunger?«, scherzte sie.
»Da hat sie richtig geraten«, antwortete Marus.
»Wenn er ein paar Minuten wartet, kriegt er das erste Stück heißen Kuchen von mir.« Dete beugte sich zur Röhre.
»Verlockend, aber ich muss leider ablehnen.« Mit diesen Worten zog der Vampir die Köchin zu sich hoch und schlug seine Zähne in ihren Hals. Vor Schreck blieb Dete einen Moment starr und regungslos, riss dann die Beine hoch und trampelte in wilder Gegenwehr gegen den Ofen. Marus hielt die kräftige Frau umfangen und presste seinen Mund auf ihre pochende Ader. Den ersten Schwall Blutes trank er langsam und mit Bedacht, um sich ein frühes Völlegefühl zu ersparen. Er spürte, wie das Frauenzimmer durch den Blutverlust ruhiger wurde. Auch der Schock ließ nach, sie genoss den Aderlass regelrecht, bevor sie in Marus’ Armen erschlaffte. Er ließ Dete zu Boden gleiten und seufzte genüsslich. Der erste Trunk nach einem Monat des Fastens war doch mit nichts zu vergleichen.
»Was geschieht denn hier?« Der großmächtige Trojan stand hinter ihm.
»Nichts von Bedeutung«, antwortete der Professor, ohne sich dem Wächter zuzuwenden.
»Was ist mit Dete?« Trojan zeigte auf die Leblose.
»Ihr ist ihr eigener Kuchen nicht bekommen.« Marus war zu Späßen aufgelegt; lächelnd drehte er sich um.
Trojan sah das Blut um den Mund und auf der Hemdbrust des Kandidaten und begriff sofort, wen vielmehr was er vor sich hatte.
»Zu miiir!«, wollte der oberste Wächter schreien, doch der Biss des Vampirs fuhr ihm in die Gurgel. Trojans Schrei verebbte als Röcheln.
Für einen Ernstfall wie diesen hatte er seinen Männern beigebracht, eine Hand schützend vor die Halsschlagader zu halten. Obwohl er bereits gebissen worden war, gelang es ihm, den Vampir fürs Erste abzuhalten. Der Wächter packte den Lehrer und warf ihn auf den heißen Ofen. Marus’ Gehrock zischte und fing zu qualmen an.
Der Professor hegte keinen persönlichen Groll gegen Trojan, so wie gegen niemanden, den er aussaugte. Doch seinen Kleidern Schaden zuzufügen fand Marus unverzeihlich. Mit betrübtem Ausdruck richtete er sich vom Ofen auf.
»Nun seh er sich meinen Frack an.« Darauf fuhr er mit solcher Gewalt auf Trojan los, dass dem Hören und Sehen verging. Im Flug verbiss sich Marus in sein Opfer, seine Zähne gruben sich in dessen kräftigen Hals, aus dem eine Fontäne Blut hervorschoss, so viel, dass Marus kaum mit dem Trinken nachkam. Von diesem Mann könnte eine Familie satt werden, dachte er, vollendete, was er begonnen hatte, und ließ Trojan in einer Lache restlichen Blutes zurück. Die übrigen Wächter befanden sich im Außenbereich des Hauses; Marus schob der Tür dorthin den Riegel vor.
Großvater wird Augen machen, wenn ich …
So weit war Heidi mit seinen Schreibkünsten gekommen. Nun galt es zu überlegen, worüber der Großvater auf dem Papier Augen machen würde. Vielleicht, dachte Heidi, weil ich über die Wiese zu ihm laufe und ihm zuwinke. Soll ich das hinschreiben? Nein, das hatte noch nicht genug Sinn. Vielleicht, weil ich dem Öhi etwas mitgebracht habe? Das gefiel Heidi ausnehmend gut, weil es dem Großvater schon immer etwas schenken wollte. Es überlegte, was das sein könnte, denn der Großvater besaß ja alles. Heidi schob den Stift in den Mund und kaute daran.
Zur gleichen Zeit befand sich Fräulein Rottenmeier in einem bedenklichen Zustand. Üblicherweise verbrachte sie die Stunden nach dem Abendbrot auf ihrem Zimmer, las ein wenig in der Bibel, kleidete sich aus und löschte das Licht. So hatte sie die meisten Abende ihres
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