Heidi und die Monster
Lebens beschlossen. Doch durch die jüngsten Ereignisse war ein Sehnen in Fräulein Rottenmeier entstanden, das sie fast zerspringen ließ.
Statt der Bibel nahm sie einen französischen Roman vom Regal, der ihr Ablenkung bescheren sollte. Er tat das Gegenteil. Denn kaum las die Rottenmeier von dem adeligen Fräulein, das im Gewächshaus den Liebhaber erwartete, war es endgültig mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie warf das Buch auf die Bettdecke.
»O Gott«, flüsterte sie, und noch einmal »Ogottogott«. Seit Herrn Sesemanns Erscheinen, seit der peinlichen Situation jener Nacht, hatte das Fräulein sich vorgenommen, das Badezimmer nie wieder zu betreten, außer wenn es unerlässlich war, und dann nur allein. Doch die Vorstellung, mit der entzückenden Tinette im heißen Wasser zu planschen, zu
schwatzen und Berührungen auszutauschen, ergriff die Rottenmeier mit Macht.
Da klopfte es an die Tür des Fräuleins.
»Tinette?«, flüsterte sie. »Bist du’s?« Sie erhielt keine Antwort. »Trojan?« Was fiel ihr denn ein? Verriet sie mit dieser Frage nicht ihre geheimsten Wünsche? »Wer ist es?«
Die Türklinke wurde heruntergedrückt.
»Moment!« Wer es auch war, keiner durfte die Rottenmeier in diesem Zustand sehen. Vorsorglich löschte sie das Licht.
»Herein.«
Im schwachen Mondlicht erkannte sie die Silhouette des Hauslehrers. »Herr Kandidat, ja bitte?«, hauchte das Fräulein. »Was steht zu Diensten?«
Marus antwortete nicht gleich. »Sie ist eine nette Person.« Er kam auf sie zu. »Sie hat ein glücklicheres Dasein verdient.«
»Findet er?« Das Herz des Fräuleins schlug bis zum Hals. Was für eine erstaunliche Wendung! Zuerst Tinette im Bad, dann Trojan, jetzt drang sogar der deutlich jüngere Mann bis in ihr Zimmer vor. War denn das ganze Haus toll geworden?
»Welche Art Dasein scheint ihm das Richtige für mich?« Auf dem Bett sitzend ließ die Rottenmeier sich auf die Ellbogen sinken.
»Du sollst in diesem Haus fortan das Regiment für mich führen«, antwortete er. »Ich will dich den Meinen voranstellen.«
»Regiment … den Deinen?« Nun war das Fräulein doch ein wenig verwirrt. »Wer sind denn die Deinen?«
Darauf hätte sich eine treffliche Antwort geben lassen, aber den Professor dürstete nach noch mehr Blut; er beugte sich über die Rottenmeier. In diesem Augenblick fiel das
Licht vom Fenster auf ihn. Erschrocken sah das Fräulein, ihr Besucher war über und über mit Blut besudelt.
»Was ist passiert?«, fragte sie in erstem Unverständnis.
»Ich will mich speisen.« Marus öffnete die Lippen, als ob er vorhätte, sie zu küssen. »Bist du bereit?«
Jetzt endlich, und damit zu spät, erkannte die Rottenmeier, in wessen Macht sie geraten war. »Oh nein! Ist er etwa ein … ist er ein …!«
»So ist es, meine Liebe.« In seinem Mund blitzten die Zähne, von denen zwei etwas hervorragten.
»Herr, erbarme dich meiner«, hauchte die Rottenmeier. Es waren ihre letzten Worte in diesem Leben. Im nächsten würde sie den Namen Gottes nicht mehr in den Mund nehmen.
Ein paar Zimmer entfernt lachte Heidi auf, denn es hatte einen Einfall. »Eine Pfeife!«, rief es. »Ich bring dem Großvater eine Pfeife mit!« Eine geschwungene sollte es sein, mit allerlei Verzierungen und Schnitzwerk. Heidi schwankte, ob es zuerst den Satz fertigschreiben oder lieber zu Klara hinüberlaufen und sie fragen sollte, wo man in Frankfurt eine Pfeife kaufen könnte. Es entschloss sich, das Angefangene zu Ende zu bringen, und senkte den Blick auf den begonnenen Satz.
Großvater wird Augen machen, wenn ich ihm …
Es tauchte die Feder ins Tintenfass, streifte sie sorgfältig ab und schrieb. Heidi staunte, wie man einerseits in einem Zimmer sitzen und schreiben und zugleich mit all seiner Vorstellungskraft auf der Alm sein konnte, wohin man dem Großvater eine schöne neue Pfeife mitbringen wollte.
Hätte es gewusst, wie weit die Blutjagd Professor Marus’ bereits vorgedrungen war, wäre es nicht so selbstvergessen auf seinem Stühlchen gesessen und hätte Aufwärtsstriche, Rundungen und i-Punkte gemalt.
Tinette machte gerade die Entdeckung, dass etwas Schreckliches im Haus vorging. Sie kam in die Küche, wollte Dete um etwas zu essen bitten und glitt im Halbdunkel aus. Tinette fiel hin und fasste in eine klebrige Flüssigkeit. Sie nahm an, die Köchin habe etwas verschüttet, und wollte aufstehen, um Licht zu machen. Sie stürzte ein zweites Mal, nämlich über den Körper Trojans. Entsetzt zuckte sie
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