Heidi und die Monster
Vergänglichkeit nicht, wusste nichts von Anfang und Ende, es musste für immer fortbestehen und war dadurch verdammt.
»Hast du Hunger?«, fragte Tinette, die Zügel in der Hand. Denn daran erkannte man eine beginnende Uuputztä: Sie hatte keinen Hunger nach menschlicher Nahrung.
»Nicht ein bisschen.« Heidi lachte. »Hab ich doch die Luft und den Himmel, da brauch ich nichts zu essen.«
Als später aus dem Morgenrot das reine, weiße Tageslicht wurde, keine Wolke den Himmel bedeckte und die Sonne das pfälzische Land beschien, durch das sie fuhren, war es Heidi auf dem Kutschbock nicht mehr geheuer. Es blinzelte und beschirmte die Augen, schließlich nahm es Tinettes Schultertuch und hüllte den Kopf damit ein. Doch es half nichts. Heidi, das bis zu diesem Tag den Glanz der Sonne so sehr geliebt hatte, ertrug die Erhabenheit des Tageslichts nicht. Es bekam Schmerzen, wimmerte und wurde am ganzen Körper geschüttelt, als ob es Fieber hätte. Dann drangen hässliche Geräusche aus Heidis Mund; es knurrte und krächzte, als ob der Dämon, der sich in Heidi festbiss, es nicht duldete, dass es sich in der Welt der Lebenden aufhielt.
Heidi wusste nicht, dass Uuputztä, deren Verwandlung ganz vollzogen war, ihre Tage üblicherweise im Schoß fauliger
Erde hinbrachten, dass der Sarg ihr Bett war und ihr Leben erst bei Nacht begann. Je höher die Sonne stieg, umso elender fühlte Heidi sich. Es hätte sich am liebsten aus der Kutsche gebeugt und erbrochen. Aber es war ja nichts in dem kleinen Magen drin, das heraus gekonnt hätte. So saß es zitternd neben Tinette, die genug damit zu tun hatte, den Falben am Laufen und gleichzeitig Ausschau nach hinterhältigen Angreifern zu halten.
Erst einmal, seit sie losgefahren waren, hatte sich eine kleine Gruppe Wiederkehrer genähert. Tinette hatte das Schwert zur Hand gehabt, den Anführer kopflos gemacht und das geängstete Pferd mit der Peitsche angetrieben. Mit hängenden Köpfen waren die Zombies zurückgeblieben, als seien sie über die rüde Zurückweisung enttäuscht.
»Du musst zurück in die Kutsche«, sagte Tinette, der Heidis Qualen nicht entgingen.
»Was ist das nur, Tinette?«, antwortete es. »Mein Kopf ist ganz bewölkt, meine Lippen sind trocken, und der Hals brennt, als säße ein Teufel darin, der sich in meiner Kehle festkrallt.«
»Wird eine Erkältung sein«, antwortete Tinette beruhigend. »Du hast nachts geschwitzt, da hast du dich wohl verkühlt.«
»Dann will ich lieber in die Kutsche und mich zudecken, denn bis wir zum Großvater kommen, muss ich wieder gesund sein.«
»Tu das, Heidi, schlaf möglichst viel.« Sie sah traurig zu, wie das Kind in die Kutsche zurückkletterte.
Tinettes Herz war schwer, wusste sie doch, dass es vom Befall dieser Krankheit keine Genesung gab und Heidis Zustand
sich von Tag zu Tag verschlechtern würde. Bis das Mädchen zum nächsten Vollmond jenes Andere geworden war, ein Greuel für sich selbst und eine Gefahr für jedes lebende Wesen. Tinette hoffte, dass nicht sie es sein würde, die Heidi einen Pflock ins Herz rammen musste. Das sollte der Großvater besorgen, von dem Heidi schon in Frankfurt ständig erzählt hatte. Wie traurig, dachte Tinette, Großvater und Enkelin werden zu dem einzigen Zweck wiedervereint, damit er ihr körperliches Leben beenden und ihr Seelenleben retten kann.
Als Heidi in der Kutsche die Tür hinter sich zuschlug, wachte Peter auf.
»Hast du geträumt?« Es setzte sich seinem Freund gegenüber.
»Ich träume nie«, antwortete der Geißenbub schlaftrunken. »Du sollst jede Stunde von der Milch trinken.« Damit holte er das Fläschchen aus seinem Sack.
»Ich hab keinen Durst.« Sie schob die dargebotene Flasche beiseite.
»Es nährt dich, sagt der Öhi.«
»Hab aber auch keinen Hunger.«
Peter duldete es nicht. »Wenn der Großvater sagt, du sollst einmal die Stunde trinken, und wär’s nur ein Schluck, so trinkst du. Ich hab es ihm versprochen.«
»Dir zuliebe.« Heidi setzte an und nahm ein winziges Schlückchen. Sogleich wurde es vom Brechreiz gereckt und wollte sich aus dem Fenster übergeben. Peter war schneller. Er hielt Heidi Mund und Nase zu, also musste es schlucken, um zu Atem zu kommen. So hatte es die Ziegenmilchmedizin eingenommen.
Heidi begann zu plaudern. »Sind die Geißen bei Gesundheit? Was machen Schwänli und Bärli?«
Peter zuckte die Schultern. »Sie fressen Kräuter, lassen ihre Bölä 5 fallen und geben Milch.«
»Und die trinkt der Großvater!«
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