Heidi und die Monster
kein
Wiederkehrer in der Kutsche verbarg, und die drei ziehen lassen. In raschem Lauf war es nach Süden gegangen. Peter, der mit Tieren umgehen konnte, trieb das Pferd an, ohne es zu erschöpfen. Es war eine laue Frühlingsnacht; wäre die allgegenwärtige Gefahr nicht gewesen, man hätte sich nichts Herrlicheres wünschen können als diese Nachtpartie durch Wiesen und Felder.
Sie hielten an einem Bach, der Falbe soff.
»Gut, probier es aus«, sagte Tinette. »Schlimmer kann es nicht werden.«
Peter hob Heidis Kopf, willenlos klappte sein Kiefer nach unten, das Mündchen öffnete sich. Der Geißenpeter flößte Heidi von der milchigen Flüssigkeit ein. Etwas ging daneben, ein wenig aber trank Heidi, schluckte und leckte die bleichen Lippen ab.
»Jetzt noch der Biss.« Behutsam schlug Peter den Stoff zurück. Die Wunde war angeschwollen und blutunterlaufen; wie ein Hornissenbiss mutete sie an. Er träufelte Großvaters Mittel darauf, verrieb es und legte den Verband neu an.
»Das soll helfen?« Besorgt beobachtete Tinette, wie Heidis Atem schwächer ging.
»Der Öhi sagt’s.« Mit grimmiger Zuversicht erwiderte Peter den Blick der Begleiterin. »Wir müssen weiter.«
»Du solltest schlafen. Ich fahre.«
»Schlafen kann ich, wenn wir auf der Alm sind.« Peter stieg wieder auf den Bock. »Schlaf du. Schau auf Heidi.«
Tinette schloss die Kutschentür. Es ruckte, und die Schaukelei durch die Nacht ging weiter. Sie legte Heidis Kopf in ihren Schoß und lehnte sich zurück. Wieso sollte sie den gleichen Weg wie der einfältige Junge nehmen? Was wollte sie
in den Bergen? Wäre es nicht an der Zeit, auszusteigen und ihr Glück allein zu versuchen? Tinette fand keine rechte Erklärung dafür, warum sie sich für das Kind in ihrem Schoß verantwortlich fühlte, doch wollte sie dies zu Ende bringen - Heidi nach Hause schaffen, lebendig, tot oder untot. Danach erst würde sie eigene Pläne schmieden. Zudem, Tinette kannte kaum etwas von der Welt, und die Schweiz sollte nicht übel sein. Sie streichelte Heidis Haar. Der Zustand der Kleinen war unverändert.
»Ziegenmilch.« Ungläubig schüttelte Tinette den Kopf.
Zur gleichen Stunde dachte der Großvater auf der Alp nicht an Schlaf. Er arbeitete im Schweiße seines Angesichts, wie er es den ganzen Tag und die Tage davor getan hatte. Die Sorge hielt ihn wach, die Hoffnung gab ihm Kraft. Er wollte sein Enkelkind, seinen verlorenen Augenstern wiedersehen; alles sollte geschehen, um die Alm zu einer sicheren Zuflucht für Heidi zu machen.
Der Öhi hatte um die Hütte tiefe Gräben ausgehoben, zwei große Kreise, einen äußeren und einen inneren. Es war ein mühsames Werken, denn der Boden war steinig, oft musste er die Spitzhacke zu Hilfe nehmen. Der Großvater hatte sein Leben lang hart gearbeitet, doch die Jahre drückten ihn, deswegen konnte er nicht mehr so heftig zuhauen wie früher. Öfter als ihm lieb war, setzte er die Hacke ab und musste ausruhen.
Nachdem die Gräben fertig waren, füllte er den äußeren mit Stroh, darüber Reisig und Holzstücke, die er aus dem Wald geholt hatte. So entstand ein Ring aus Brennholz um
die Hütte; das sollte der erste Verteidigungswall sein. Am Rand des inneren Grabens rammte der Öhi an beiden Seiten angespitzte Lärchenstöcke in den Boden. Die oberen Spitzen standen so, dass sie jeden Eindringling am Überspringen des Grabens hindern sollten.
Die Arbeit war noch lange nicht vollendet, und der Großvater wusste, die Zeit war sein Feind. Auch wenn ihm schier die Hand erlahmte, griff er zum nächsten Stock, setzte ihn in den Boden, nahm den Füüschtlig am langen Stiel und trieb den Pflock in den Boden. Weithin hallten die Schläge über die Matte.
Als der Großvater aufblickte, fuhr er zusammen. Dort stieg jemand mitten in der Nacht den Bergrücken hoch.
»Halt! Nicht weiter!«, schrie der Alte.
Die Gestalt, von der kaum mehr als ein Schemen zu sehen war, verharrte.
»Wer bist? Was willst du zu dieser Stunde?«
»Gelobt sei Jesus Christus!«, erwiderte der nächtliche Besucher. Da erkannte der Großvater den Pfarrer.
»Herr Pfarrer, was tut er hier?« Der Öhi duldete, dass der Geistliche näher kam. »Fürchtet er nicht, dass ein Glaarä ihn packt?«
Statt einer Antwort zog der Pfarrer sein Kurzschwert aus der Scheide. »Soll es nur probieren. Jeden Glaarä halt ich mir damit vom Leib.«
»Respekt.« Der Großvater reichte dem anderen über den Graben die Hand. »Wieso nimmt er die Gefahr auf sich? Was will er
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