Heike Eva Schmidt
einer großen Geste stellte sie das umgedrehte Glas in die Mitte des beschrifteten Kartons. Langsam und feierlich legten alle Mädchen die Spitzen ihrer Zeigefinger darauf, als Letzte ich. Sina holte tief Luft und fragte laut: »Geist, bist du da?«
Die letzte Silbe hing zitternd in der Schwärze des Raums, die abseits der Kerzen wie ein dunkles Tuch über uns lag. Drei Sekunden lang passierte nichts. Die Zeit schien stillzustehen, unsere von den zuckenden Flammen erhellten Gesichter wirkten wie ein surreales Gemälde, gebannt in Zeit und Raum. Ich spürte ein leichtes Zittern unter meinem Finger. Ein Ruck – und das Glas bewegte sich! Fast hätte ich vor Schreck die Hand zurückgezogen, aber den Triumph wolle ich Sina nicht gönnen. Also biss ich die Zähne zusammen und ließ meine Hand mitwandern, als sich das Glas auf das »JA«-Feld zubewegte und dort zum Stehen kam.
Einen Augenblick war nur der Atem von uns sieben zu hören. Dann erhob Sina erneut die Stimme: »Geist, hast du eine Botschaft für jemanden, der heute unter uns ist?«
Wieder ruckelte das Glas und begann seine Wanderung. Diesmal nahm es Kurs auf die Buchstabenreihen. Es bewegte sich zu dem »C« und verharrte dort einen Moment. Dann rutschte es zurück, glitt über das »B« hin zum »A«. Ich musste nicht erst warten, bis es den Buchstaben »T« anpeilte, mir war auch so klar, für wen die Botschaft bestimmt war: »CAT« – für mich.
Lilli ließ ein nervöses Kichern hören, wurde aber durch einen dunkel blitzenden Blick von Sina zum Schweigen gebracht.
»Geist, welche Botschaft hast du für Cat?«, fragte sie mit dumpfer Stimme.
Ich konnte nicht verhindern, dass mir das Herz bis zum Hals schlug, als würde ein bösartiger Zwerg schnell und heftig auf meinen Kehlkopf einhämmern. Das Glas flitzte ohne zu zögern kreuz und quer über den Karton.
»D«, »E«, »N«. Ein kurzes Zittern, Pause, dann weiter auf »T« und »O«. Wir hielten den Atem an. Das Glas wackelte, schien zu zögern, denn es schlitterte erst nach vorne, dann zurück, doch schließlich glitt es erneut auf den Buchstaben »T«.
Den Tot?!
Ich zog meinen Finger vom Glas und wandte mich an Sina: »Euer Geist hatte wohl schon zu Lebzeiten schlechte Noten in Deutsch! Oder warum buchstabiert er ›Tod‹ mit einem harten ›t‹?«, fragte ich spöttisch.
Sina funkelte Eve und Lola wütend an. Die beiden zogen unwillkürlich die Köpfe ein. Aha, da saßen also die Fehlerteufel. Fast hätte ich laut losgelacht.
»Tja, sorry, Sina. Da ist wohl dein Plan, mir einen Schrecken einzujagen, an der fehlerhaften Rechtschreibung deines Hofstaats gescheitert«, sagte ich schadenfroh und musste nun wirklich kichern. Doch das Lachen blieb mir im Hals stecken, als ich Sinas Gesicht sah. Der blanke Hass stand darin. Nun erschrak ich wirklich. Was hatte sie bloß gegen mich?
»Du glaubst wohl, du bist was Besonderes, hä?«, fauchte sie.
»Kommst neu an die Schule und machst einen auf Miss World mit deinen roten Haaren und deinem Architektenvater! Nur weil wir aus ’ner Kleinstadt kommen und du schon in Berlin und Dänemark warst!«
»Schweden«, rutschte es mir reflexartig raus, »Stockholm liegt in Schweden!« Offenbar hatte Sina nicht nur Probleme in Mathe, sondern auch in Geographie.
»Da hast du’s! ’Ne arrogante Kuh bist du, Caitlin!«, schrie diese daraufhin wutentbrannt.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mia, Lilli und die anderen sich hastig vom Acker machten. Offenbar hatten sie keine Lust, dass Sinas Zorn sich womöglich noch über ihnen entlud. Und auch ich legte offen gestanden keinen Wert darauf, in diesem klammen Hexengefängnis einen Zickenkrieg à la Hollywood auszufechten. Also holte ich tief Luft und machte eine beschwichtigende Geste. »Pass auf, lass uns doch einfach in Ruhe reden …«, fing ich an, doch Sina war schon aufgesprungen. Geduckt wie eine angriffslustige Katze, machte sie drei Schritte rückwärts, ehe sie hämisch sagte: »DU kannst in Ruhe reden! Mit den Geistern all der Hexen, die hier drin geschmort haben! Angenehmen Abend – Cat!«
Blitzschnell huschte sie zur Tür, und ehe ich reagieren konnte, hörte ich schon die schwere Holztüre zuschlagen. Ein Scharren, ein Klacken – dann herrschte Stille.
Eine geschlagene Minute blieb ich einfach sitzen. Weder wollte ich Sina, die garantiert draußen vor der Tür stand und sich ins Fäustchen lachte, die Genugtuung verschaffen, hysterisch an der Tür zu rütteln, noch meiner eigenen Panik
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