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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Erfrischungskarren hin und her:«Wahrme Wührstchen – Schok’lad – Apfelsaft…!»rief sie. Sie schob den Karren von Fenster zu Fenster. Das waren noch alte Ufa-Zeiten, als sich die Leute aus dem Fenster lehnten und eine Zeitung kauften.«Sieben Jahre Pech.»
    Aussteigen, einen Zug überspringen und das Ulmer Münster ansehen? Nein, weiter, weiter. Man kann sich ja denken, wie es aussieht.

    In Lindau regnete es. Bei Sonnenschein war Matthias losgefahren, um sich siebzehn Stunden später in Lindau vollregnen zu lassen. Strohhut auf, und mit dem Koffer in der Hand suchte er sich ein Hotel. Dort badete er sich ausgiebig, ein neues Leben beginnen? Alles abstreifen.
    Am nächsten Morgen stellte er fest, daß das Zimmer fünfzehn Mark kosten sollte pro Tag, da ging er zur Fremdenverkehrszentrale. Ihm wurde ein Zimmer bei einem Malermeister vermittelt, für zweifünfzig den Tag. Ein übergroßes Bett mit Nachttischlampe, und unter dem Fenster Tisch und Stuhl. Vom Fenster aus die Aussicht auf eine Mauer.
    Die Wirtin stellte ihm eine Terrine Kartoffelsuppe hin und sagte:«Das Wetter wird sicher bald wieder besser werden, das geht in Lindau schnell.»Aber eben manchmal auch: Wenn’s schon mal regnet, dann regnet es… Matthias erzählte ihr, an den Türrahmen gelehnt, daß er an den Bodensee gereist ist, weil er mal auf andere Gedanken kommen will.
    «Sind Sie verheiratet?»
    Den Malermeister kriegte er nicht zu sehen, der lud unten seine Leitern auf.

    Lindau am Bodensee: Viermal am Tag das Schiff ausfahren sehen und wie es wieder hereinkommt, mit Ausflüglern, aber auch mit Männern, die eine Thermosflasche in der Jackentasche stecken haben und ein altes Fahrrad führen.
    Im Hafenbecken schwammen Schwäne, denen machte der Regen nichts aus.
    «Die sind noch aus der Vorkriegszeit», dachte Matthias.«Diese Schwäne waren schon immer da.»Wie damals die Schwäne, zu Hause, in den Wallanlagen, die er mit Zwieback fütterte, an der Hand seiner Mutter, sie waren dann so angeschwommen, mit zwei, drei Paddelschlägen ihrer Füße, und die Mutter: Beug dich nicht so weit vor!

    Am Ufer waren Arbeiter dabei, die Promenade zu verbreitern, ein Kompressor trieb die Gesteinsbohrer an. Überall regt sich Bildung und Streben. Wenn die Promenade eines Tages fertig wäre, würde das hier großartig sein, dann würden es die Touristen hier schön haben – auf und ab gehen unter Trauerweiden? Sich auf die Bank setzen und übers Wasser gucken?
    Im Cafehaus war es nicht auszuhalten wegen des Lärms. Matthias setzte sich ins Ratscafe am Markt und rührte in der Kaffeetasse: Leute angucken, und die Leute guckten ihn an.

    Das Museum mit alten Münzen und Siegeln unter Glas wurde gerade renoviert, und die Kirchen waren abgeschlossen.
    In den Straßen umherlaufen und jubelnde Schaufensterpuppen ansehen, in Freizeitkleidung, die man nicht kaufen würde, um nicht wie eine Schaufensterpuppe auszusehen.

    Im Antiquariat:«Friedemann Bach»von Brachvogel und«Besonnte Vergangenheit»von Schleich.
    Matthias kaufte für vier Mark den«Idiot»von Dostojewski.«Garmisch 1936»stand vorn drin. Er schrieb:«Lindau 1961»dahinter. Das war ein Unterschied…
    Auf dem schweren Eichentisch in der Mitte des Hinterzimmers lagen Folianten voll handkolorierter Heilkräuter. Majoran zum Beispiel und Kümmel. Wozu die Kräuter jeweils gut sind, Majoran kommt in die Leberwurst und Kümmel in die Sülze. Dort lag auch eine Bibel aus dem 17. Jahrhundert. Bei einer Haushaltsauflösung auf den Karren geworfen:«Die nehmen Sie man auch gleich mit!»«Fräulein Härtel, würden Sie bitte mal die Stiche von Mecklenburg und Pommern bringen?»
    Das war Heimat, wie er sie nicht gekannt hatte: Eine Kutsche fährt durchs Kniepertor, Spaziergänger im Zylinderhut und Frack zeigen einander mit dem Spazierstock, daß da eine Kutsche durch das Tor fährt.
    Das Fräulein Härtel trug einen rostfarbenen Rock mit Blumenborte am Saum. Sie hielt Abstand von Matthias:«Mit dem ist was nicht in Ordnung», dachte sie. Und Matthias dachte:«Du bist ganz schön dumm! Du hättest bei mir den Himmel auf Erden. »

    Antiquitätengeschäfte gab es nicht in der Stadt, in denen er Preise hätte vergleichen können. Eine kleine Apothekerwaage kaufte er, zum Zusammenklappen und in die Tasche stecken, winzige Gewichte. Beim Trödler in Haßberg hatte er eine ganz ähnliche Waage gesehen. Die sofort kaufen, wenn man wieder zu Hause ist, und dann weitere kaufen, bis man zwanzig Stück davon

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