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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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neben dem andern, und er fuhr sofort wieder hinunter.
    Das war noch so komisch: Er hatte keine Rückfahrkarte gelöst und gab oben einen Hundertmarkschein hin, worauf er fünfundneunzig Mark in Fünf-Mark-Stücken eingewechselt kriegte, das zog die Tasche mächtig runter. Das war etwas, was man in Klein-Wense würde wieder und wieder erzählen können. Und die Sache mit dem Kompressor auf der Promenade. Es war lustig, ein Pechvogel zu sein.
    «Es ist herrlich hier!»schrieb er an Lilli, die jetzt wer weiß wo mit wer weiß wem war.

    Am Sonntag wollte er in die Kirche gehen, was sollte er sonst tun? Aber die Türen waren abgeschlossen, er war ein paar Minuten zu spät dran. Drinnen hörte er die Leute singen, und er stand draußen.
    «Das ist die verlorene Heimat», dachte er.
    Auf der Promenade hatten sie ein Karussell aufgebaut, hölzerne Pferde und hölzerne Schweine mit Steigbügeln. Niemand wollte in dem Ding fahren.
    «Vielleicht ist am Nachmittag mehr los», dachte Matthias. Und tatsächlich, am Nachmittag klärte sich das Wetter auf, eine Blaskapelle kam herbeimarschiert, Hüte mit wippenden Federn hatten die Musiker auf dem Kopf, und sie bliesen Märsche, und das Karussell tingelte dagegen an.
    Matthias mietete ein Ruderboot, fuhr nach links und nach rechts, auch Kreise ließen sich fahren, und am besten ist es, man läßt das bleiben. Aus der Stadt schallten Trompeten, und Matthias saß im Ruderboot und wußte nicht, warum.
    Ei, warum? Ei, darum!
Ei, warum? Ei, darum!
Ei, nur weg’n dem Tschingderassa, Bumderassassa,
Bum!
    Blasmusik? Wenn schon, dann Posaune.
    Matthias ließ sich in der Schießbude ein Gewehr geben und schoß auf weiße Blechenten, die in endloser Folge an ihm vorüberzogen. Manchmal traf er, manchmal traf er nicht.
    Hier sah er dann auch das Fräulein Härtel. Der Büchsenspanner spannte ihm die Flinte, und in dem Augenblick sah er, daß sie ihm zuguckte. Er schoß und traf natürlich nicht. Und als er aufschaute, war sie nicht mehr da.
    Er setzte sich auf eine Bank.«Wie gut, daß ich meine neue Jacke anhatte», dachte er.
    Drüben das Schweizer Ufer, es lag hinter Wolken. Hier auf dieser Seite hatten einmal Menschen gestanden, und das war noch gar nicht so lange her, und hatten hinübergeschaut, und das Ufer war zu sehen gewesen, aber es war unerreichbar gewesen für sie. Im Hinterzimmer des Friseurs, auf ein geheimes Klopfzeichen, trifft man einen Ortskundigen, der weiß, wie man hinüberkommt. Aber drüben wird man dann abgewiesen.
    Matthias mußte an den Viehhändler in Klein-Wense denken, vielleicht hatte der auch hier gestanden?

    In Österreich war er nun gewesen. Weshalb nicht auch noch in die Schweiz fahren?
    «Wo warst du in den Ferien?»-«In Österreich und in der Schweiz.»
    Er fuhr mit dem Schiff hinüber und dann mit dem Zug nach St. Gallen. Dort schrieb er noch eine Postkarte an Lilli, ging am Kloster entlang, sah einen Mönch und fuhr wieder zurück.

    Am Fenster seines Zimmers saß er, und er sah auf eine alte Mauer. Er zog sich den Stuhl ans Fenster und las. Und zwischendurch guckte er sich die Mauer an, an der ein paar grüne Ranken hin-und herpendelten. Und als er sein Buch durchhatte, fuhr er nach Haus.

32

    S ommer in Klein-Wense, das sah nun ganz anders aus, die breiten Häuser unter Bäumen verborgen, die Dielentür offen, ein schwarzes, gähnendes Loch. Der Hofhund hat sich ins Haus zurückgezogen, wenn jemand vorbeikommen sollte, würde er herausschießen, und die Gänse würden aufhören mit Federpflege und schreiend vorwärtsstürmen gegen den, der da vorüberkommt, Bauer mit Sense oder junges Mädchen auf’m Fahrrad. Die Tür zum Schweinestall steht offen, die rosa Hausgenossen liegen auf der Eichelwiese, Hühner spazieren dazwischen.
    Matthias schrieb an die Wandtafel: Wir sind im Wald! Er setzte seinen Strohhut auf, nahm seine Kinder und machte einen sogenannten Ausflug, einfach mal losgehen, und zwar nicht durchs Dorf, sondern ums Dorf herum, damit es keine Aufregung gibt unter den Tieren, und damit keine Bauersfrau ihn stoppt und sagt: «Na? In’n Wald gehen?»
    Also um das Dorf herum, die kühle Eische entlang, im Gänsemarsch, die Sonnenblumen-und die Rosenfahne vorneweg, und an der Hand links und rechts die Kleinen, die zwar genau wissen, wo’s langgeht, aber es könnte ja sein, daß der Lehrer es nicht weiß. Die überzählige Ursula hielt sich an der Jackenschlippe fest.«Guckt mal, der Pflaumenbaum, wie voll der sitzt», sagte Matthias. Aber es

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