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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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war kein Pflaumenbaum, sondern eine Zwetschge. Kopfrechnen kann der Lehrer nicht und den Unterschied zwischen Zwetschge und Pflaume kennt er nicht, aber sonst ist er ganz in Ordnung.
    Die Dörfler, die den Zug von weitem sahen, erinnerten sich an Kinderzeiten, in denen sie mit ihrem Lehrer ganz denselben Weg gegangen waren, auch einen Umweg um’s Dorf herum, damit die Bauersfrauen nicht fragen: Na? In’n Wald gehen?

    Ellinor von Kallroy, die Tochter des weltbekannten Malers, stand im Fenster und putzte die Scheiben. Sie winkte herüber, aber Matthias guckte gerade woanders hin, er mußte die Kinder davon abhalten, daß sie sich gegenseitig ins Wasser stoßen; 1919 war hier ein kleines Mädchen ertrunken, man hatte es erst nach Tagen gefunden. Der Lehrer, der nicht aufgepaßt hatte, mußte versetzt werden, weil ihm die Fenster eingeschmissen wurden. Rachefrauen hatten die Fäuste gegen ihn erhoben!
    Der alte Kallroy – er hätte noch leben können und seiner Tochter zusehen, wie sie da die Fenster putzt, wenn er nicht ins Moorlager gekommen wär’. Siebzig Jahre? Das ist doch noch kein Alter.

    Nun war der Wald erreicht, der Sassenholzer Wald, in dem ein Bauer eine Woche nach Kriegsschluß noch auf eine Mine gefahren war und in Stücke gerissen wurde.
    Im Wald ließ Matthias die Kinder los, schüttelte die sich anklammernden schweißigen Händchen ab wie klebriges Papier und löste auch den Affengriff des Mädchens Ursula von seinen Jakkenschlippen. Im Wald gab es Bremsen, und da brauchte er seine Hände, um sie zu verscheuchen, wie Pferde das mit dem Schweif tun.
    Den Wandererlaß hatte Matthias nicht durchgelesen vorher, und die Strecke war er auch nicht abgefahren, es würde sich schon kein Kind die Augen ausstechen an herunterhängenden Zweigen. Außerdem ging’s immer streng geradeaus: Die Schneise war wohl einen Kilometer lang. Leider verlockte die Kinder die Stille des Waldes zu Geschrei. Zuerst ging Matthias noch dagegen an, durch Belehrung, wie schön es ist, so still und stumm durch den Wald zu wandern, durch Berufen und durch eignes Beispiel. Alles zwecklos. Leukoplast hätte man mitnehmen müssen, um die Münder zu schließen. Es würden also keine Rehe zu sehen sein, aber die Kinder würden schon wissen, wie diese Tiere aussehen.
    Die Ameisen, die ihrem Haufen zustrebten, ließen sich nicht stören von dem Lärm. Aber sosehr Matthias auch den Ameisenhaufen anstierte, was das für ein Wunder Gottes ist, da blieb kein Kind stehen, um auch zu stieren und Gottes rätselhafter Schöpfung nachzusinnen. Die Kinder waren längst auf und davon, weit auseinandergezogen liefen sie vorweg. Hinterherschreien hatte keinen Zweck. Um sie wieder einzusammeln, bog Matthias stillschweigend in einen einsamen Weg ein und machte sich’s gemütlich. Er ließ die Kinder ruhig weiterlaufen. Daß er verschwunden war, sprach, rief, schrie sich nach vorn durch, und irgendwann drehten alle Mann um, und die ganze Meute kam zum Lehrer zurück und ließ sich belehren, was das für eine Dummheit ist: so weit vorauszulaufen? Als Matthias sich dann erhob und weiterging, liefen sie wieder los, schreiend, weit voraus, mit Knüppeln auf die Bäume einhauend. Also das Manöver wiederholen: In einen Weg einbiegen und es sich dort gemütlich machen. Und wieder dauerte es eine Weile, bis die Kinder das mitkriegten, es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mußten umkehren und den Lehrer suchen, der auf einem Baumstumpf saß und sie ernst ansah. Die Kinder in ihren dicken Hosen, wollenen Strümpfen und Schnürstiefeln waren ganz außer Atem, als sie den Lehrer da sitzen sahen, der ganz friedlich an einem Holz schnitzte; das sollte eine Art Boot werden, das er dann zu Wasser lassen kann.
    Große Diskussion. Daß das«gemeint»sei, sagten die Schüler, und Matthias sagte, sie müßten doch einsehen, daß das nicht geht, so weit vorauszulaufen und zu schreien, was soll der Förster denken? Und ob sie sich denn gar nicht vorstellen können, was er für Schwierigkeiten kriegt, wenn sich einer das Auge aussticht? Aufsichtspflicht? Daß er ihretwegen in Deubels Küche kommt? Nachdem genug geredet worden war, konnte weitergelaufen werden.

    Die drei Kleinen waren die ganze Zeit bei ihm geblieben, sie sahen ihm zu, wie er da an seinem Boot schnitzt. Das dünne Mädchen Ursula legte ihre schwitzigen Hände von hinten um seinen Hals. Sie waren absolut der Meinung des Lehrers.
    Und Marianne berichtete haarklein, wer alles der Meinung sei, daß der

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