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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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als zwei Urkunden, gar sieben oder acht, das wäre auch nicht gut gewesen, dann hätte es im Dorf geheißen:«De mäkt ja woll nur noch Sport, de soll bäter mihr räken!» 1

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    D ie Nachmittage gehörten ihm ganz allein. Wenn der Regen aufs Dach trommelte oder der Wind an den Pfannen rüttelte, dann war es in der Dachkammer sehr gemütlich, das Bett an der Wand,«Armer Poet», das Tischchen vorm Fenster: Da konnte ihm niemand an den Wagen fahren.
    Er schnüffelte seinen Koffer durch, was da alles drin ist, alles schon so lange her: das alte Foto von sich, mit Büttenrand, wo er auf dem Rasen sitzt im Park des Grafen Schönlohe, zwei Jahre alt, eine weiße Pudelmütze auf dem Kopf, das Dienstmädchen daneben, und der Graf war höchstpersönlich angestiefelt gekommen und hatte sie fortgejagt, so wurde erzählt:«Was haben Sie hier zu suchen?»- Alte Briefe, das Foto von Lilli, eigentlich doch schade, daß man so gar nichts mehr voneinander hörte, akademischer Hochmut stand dem entgegen: Jura und Pädagogik passen eben nicht zusammen, hatte sie gemeint, dazwischen lägen Welten… Zwischendurch stand er auf und ging ans Fenster, warum Freedes Hund bellt, aha, da wird eine Sau zum Eber getrieben.

    Gelegentlich zog es ihn fort,«Altertum»besorgen, von Dorf zu Dorf, oder mal mit jemandem reden.
    Die langen Abende: Besonders abends war ihm nach Abwechslung zumute. Ins Gasthaus ging er nicht, wenn er da erschienen wäre, hätten sich die Leute sehr gewundert.«Ah! Hoher Besuch…»Mit Carla war vor zehn Uhr nicht zu rechnen, wenn sie denn kam. Vorher traute sie sich nicht, man hätte sie sehen können, und nach zehn schlief sie dann meist schon, von der Müdigkeit dahingerafft.

    Nach dem Abendbrot mal für ein Stündchen zu Ellinor fahren? Das hätte man schon längst tun sollen, vielleicht war sie ja beleidigt?«Kommen Sie doch einfach mal wieder rum», hatte sie gesagt. Hatte man das für bare Münze nehmen dürfen? Warum nicht? – Weshalb nicht einfach mal hingehen?, fragte sich Matthias. Ganz zwanglos mal reingucken: zwei Menschen gleichen Bildungsstandes inmitten schlichten Bauernvolks, im Grunde doch aufeinander angewiesen? Klein-Wense? Über Rilke klönen oder van Gogh und dazu«Clair de lune»hören von Debussy… Daraus Kraft schöpfen zum Weitermachen, Matthias in der Schule beim freischaffenden Lernen, und Ellinor in anderen Bereichen, die sich ihr schon noch erschließen würden?

    Morgens konnte er sie nicht besuchen, das schied aus wegen der Schule, nachmittags war auch schlecht, da«bereitete er sich vor», wie er das nannte, saß also in seiner Dachkammer und beschäftigte sich mit dem Sesam-open-you, mit Papieren und Karteien: wie oft er die einzelnen Kinder aufgerufen hat, wer zu fördern und wer zu dämpfen ist. Erziehen?«Am besten alle so lassen wie sie sind», dachte er«es sind doch alle schon fertige Persönchen… Zukünftiger Bürgermeister, Wirtin und Gemeindeschwester.»Bei manchem war’s nicht klar, wohin es ihn treiben würde. Seemann vielleicht? Wer konnte das wissen. Wer hatte es ahnen können, daß man selbst einmal in Klein-Wense landete?

    Also abends.
    «Ach, Sie sind’s?»sagte Ellinor, als sie ihm die Tür öffnete.«Na, denn kommen Sie man rein…»
    Das war nicht besonders einladend, aber er war nun mal da, und die Tür stand offen, also vorwärts!, nur getrost.
    Er habe gedacht: Warum eigentlich nicht, sagte er, die paar Schritte von ihm zu ihr? Eigentlich schade, daß man sich so selten sieht…
    Die Tante, oben auf der Treppe, kehrte um, als sie Matthias sah. Hinter ihr, im Dunkeln des Korridors, stand ein Herr mit angeklatschtem Haar und gepunkteter Fliege, das sah Matthias, als er sich die Fahrradklammern von der Hose nahm, das war vermutlich ein Rechtsanwalt, der im Begriff war, die Tante zu beraten, hinsichtlich der Bilder, für die er möglicherweise einen Schnitt vorschlug, zwischen der Nichte und ihr: drei zu zwei oder eins zu drei, sonst würde sie womöglich noch mit ihrem Pflichtteil operieren? Immerhin die leibliche Tochter? Oder alles an die große Glocke hängen? – Es war zu spüren, daß dort oben was im Gange war.
    Ellinor hatte verweinte Augen. Der Abendbrottisch war noch nicht abgedeckt, oder war es gar die Mittagstafel? Mehrere Personen hatten hier gespeist, ein Schlachtfeld, an dem sie sich nochmals niedergelassen hatte, um traurig ihr Brot in einen Teller Suppe zu brocken. Weiß der Himmel, wer hier getafelt hatte. Die Bremer Dramaturgen? Oder Leute

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