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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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schlimme Zeit, die er hinter sich hatte, stand hier nicht zur Debatte.

    Die Kerze wurde heller in dem Maß, wie es draußen dunkler wurde, und Ellinor zündete noch weitere Kerzen an, auf dem Sims des toten Kamins und unter dem Porträt einer jungen Frau, die ihre Mutter gewesen war. Einen Augenblick hatte Matthias Furcht, es käme zu einer bedenklichen Gefühlsäußerung, wollte sie vielleicht gar niederknien vor dem Bild?
    Neben dem Kamin, das sah er jetzt, lagen Zeichnungen von Säckel, zerknüllt. Das war also auch anders gelaufen, als man es sich gedacht hatte. Vielleicht hatte er sie im falschen Moment an sich gerissen? Von ihm gepackt zu werden, mochte sie sich vielleicht gewünscht haben, aber so etwas mußte im richtigen Augenblick geschehen. Die Moleküle ihres Leibes hatten sich vielleicht noch nicht ausreichend erhitzt gehabt, sie waren vielleicht erst kurz davor gewesen, als es über ihn kam, und dann war sie blitzschnell erkaltet vor der Brunst des Mannes, den sie immer für einen großen Jungen gehalten hatte? – In seinen Bildern immer so sensibel, Licht und Schatten gleichmäßig verteilt und alle Formen diagonal gewichtet? – Und dann zur Unzeit derartig grob?

    Sie legte eine Schallplatte auf… Roter Mohn…, schleuderte die Schuhe von den Füßen und nahm ein indisches Seidentuch um die Schultern und fing an zu tanzen. Wie der Plattenteller sich drehte, so drehte auch sie sich, schüttelte alles ab und kreiselte auf dem Teppich der Halle einen Selbsttanz, wobei sie sich gedankenverloren gab, so als wollte sie etwas ausprobieren, fremdländische Schritte, Scharbeutz plus Kartoffelfeuer, und das indische Tuch nahm sie wie einen morgenländischen Schleier um den Kopf, drehte sich heraus und wieder hinein und schwenkte es durch die Luft, Abschied und Signal zugleich… – So bin ich nun mal, sollte das bedeuten, tanze einfach für mich allein, wenn es über mich kommt.
    Roter Mohn, warum welkst du denn schon?
Wie mein Herz sollst du glüh’ n und feurig loh’ n!
    Sie winkte in die Gegend, mal nach links und mal nach rechts und auch in seine Richtung, halb Fee, halb Hexe, halb Tausendundeine Nacht, und die Schatten an der Wand tanzten mit. Und er saß da mit seinen aufgerichteten Schnürsenkeln. Wer konnte es denn wissen? Möglich war es schon, daß sie auch ihm eines Tages Heißwecken mit Vanillesoße machen würde.

    Matthias rührte sich nicht, in der Ecke drehte sich die Platte, und auf dem Teppich tanzte die Bajadere. Habe ich denn einen Turban auf dem Kopf?, fragte er sich. – Es war ihm nicht peinlich, aber er fragte sich doch: Wie lange mag es noch dauern? Um Himmels willen? Mußte er sich am Ende hier erheben und auch gestaltend in die Gegend greifen? Vielleicht stürzt sie sich am Ende auf mich?, das fragte er sich, und das wäre ihm nicht recht gewesen… Im Dämmer der Kerzenschatten sah er ihr zu, und dann sah er auch Carla tanzen, die jünglingsschlanke, an der Seite trug sie nach Pagenart einen Degen. Und wenn er selbst sich beteiligt hätte an dieser Vorstellung, dann hätte er sich zwischen ihnen befunden wie in einer Rathausspieluhr: drei sich drehende Figuren in je einer Nische, und dann wird das Uhrwerk abgeschaltet, und sie bleiben stehen: bums!
    Matthias nahm die Beine in den Schneidersitz und wickelte sich einen Sahnebonbon in den Mund und lächelte, damit sie glaubte, es gefalle ihm, wie sie da für ihn sich dreht und wendet.

    In diesem Augenblick mochte die Tante, im Zimmer über ihnen, ihren Rechtsanwalt an den Kamin ziehen:… Roter Mohn… Die Sache spitzte sich zu da unten, das war ganz offensichtlich. Eine Art Orgie spielte sich da ab, und das war zu Protokoll zu nehmen. Konnte man denn Kunstwerke allerersten Ranges bei einem Menschenkind belassen, das Besuche empfängt und tanzt? Also vielleicht doch besser auf eine Teilung von vier zu eins zusteuern?

    Nun tanzte Ellinor in die Küche hinaus – drehte eine Pirouette in der Tür – und holte als eine Art Salome eine Schüssel mit den Resten eines gebratenen Schweinekopfes herein, eine Zitrone im Maul. Mit der Schüssel in der Hand beendete sie ihren Tanz und setzte sich ziemlich plumpshaft in ihren Sessel – es hat ja alles keinen Zweck. Sie säbelte mit dem Küchenmesser ein wenig an dem Schweinekopf herum und bot ihm auf der Messerspitze einen Fleischlappen an. Als er ihn mit den Fingern abgenommen hatte, richtete sie das Messer gegen seine Brust. Sie habe manchmal den Gedanken, daß sie einen Mann ermorden

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