Heile Welt
verwahrloste Künstlerhaus auf einmal gut genug gewesen.
«Und nun will sie hier abräumen…»Kriegte Besuch von einem Mann, mit gepunkteter Fliege und angeklatschtem Haar, der sein Auto an der Ecke stehenließ, damit es keiner merkt, daß er hier nach dem Rechten sieht, und tuschelt mit ihr auf der Treppe?
Matthias schichtete die Teller in den Schrank und polierte die von dem Künstler selbst entworfenen Bestecke. Der Aschenbecher war neueren Datums, der hatte eine wunderlich asymmetrische Form, ein Glasklumpen mit regelmäßigen Bläschen darin: wie das Bühnenbild zur Königin der Nacht, allerdings rot statt dunkelblau. Nun wurden mit dem Wischlappen die Abwaschkummen und das Leckbrett trockengewischt und der Wachstuchüberzug des Tisches, die Stühle richtig hingestellt, noch mal überblicken das Ganze…, so hatte man das beim Arbeitsdienst gelernt. Ja, und dann eben hineingehen in die Künstlerräume, in denen sich der kalte Zigarettenrauch rheinländischer Kulturbeamter durch die offenen Fenster verflüchtigt hatte.
Sie schlossen die Luftklappen mit einem Knall und setzten sich in den Erker, vor dessen Fenster die zusammengeklebten farbigen Glasscherben hingen, die eigentlich Matthias gehörten, wulstig, wie erstarrte Lava. Auf dem Tisch stand eine Schachtel mit Cremehütchen, ein Mitbringsel der Gäste, daraus durfte er sich bedienen, und Wein wurde ihm eingeschenkt, aus einer angebrochenen Flasche, die ebenfalls mitgebracht worden war.
Das ernste Bild des Vaters, das hier neben dem Lichtschalter gehangen hatte, war abgenommen worden, das stand, an die Wand gelehnt, mit anderen Bildern im Flur.
Die Tränenschwellung in Ellinors Gesicht ging zurück, man war den Anforderungen des Lebens ja gar nicht gewachsen, wer hätte denn damit rechnen können, daß einem womöglich der Stuhl vor die Tür gesetzt wird, nur weil der Vater in einem Augenblick der Panik irgend etwas unterschrieben hat?
Aber nun Schwamm drüber, nun Patiencen legen. Einen Augenblick noch warten, bis die flüchtigen Schatten sich verflüchtigt haben, und dann los. Die Karten wurden gemischt, abgehoben und verteilt, aber die Streitpatience kam nicht so recht in Gang. Ellinor verlor ein Spiel nach dem anderen, und da hatte sie dann bald keine Lust mehr.
Kerze anzünden, an herrliche Kriegszeiten denken, an den Vater, wie er im Herbst ums Kartoffelfeuer herumstolzierte, der teerige Geruch des Kartoffelkrauts und der in den Himmel spiralende Qualm. Die Franzosen hatten dabeigestanden, auf Rechen gestützt. So war es gewesen im Herbst 1944, als sie zum letztenmal auf Urlaub gekommen war aus dem Arbeitsdienst, dick wie eine Tonne vom vielen Suppefassen. Ins Feuer geguckt und in der Glut die düstere Zukunft gesehen, den Weltuntergang, der zwar eingetroffen war, nach dem dann aber alles weitergegangen war und sich bis heute hinschleppte mit Folgen, mit denen man nicht im entferntesten gerechnet hatte.
Ellinor dachte auch an die Vorkriegszeit, die nicht minder herrlich gewesen war:
Ich tanze mit dir in den Himmel hinein
in den Siebenten Himmel der Liebe…
In Scharbeutz immer so gern Florentiner gegessen, und auf der Promenade, der Stehgeiger… An der Hand ihres Vaters war sie auf der Promenadenmauer balanciert, das Meer und die verwehenden Rufe der Badenden.
Dann hatte er sie auf den Schoß genommen, hatte sie ernst angeguckt, anders als sonst, und heute sei ihr klar, daß in diesem Blick schon das Wissen um das Ende gelegen habe, um die spezielle Form des Endes, genauer gesagt, mit der niemand habe rechnen können.
«Wenn man das alles vorher gewußt hätte… Aber vielleicht ganz gut so.»
Ellinor zog ihr feuchtes Taschentuch aus dem Ärmel und schnaubte hinein. Sie nahm die Brille ab und trocknete die Wimpern. Und dann reinigte sie ihre Fingernägel mit den Fingernägeln. Sie erzählte sich selbst die alten Geschichten, tastete die abgetasteten Bilder ab, und Matthias zog die Katze neben sich und hörte zu. Die Nacht nach dem Tod ihrer Mutter, als der Vater auf dem Sofa lag und weinte, und sie – und nicht die Tante! – ihm Heißwecken mit Vanillesoße gemacht hatte, sein Leibgericht?
Matthias spürte, daß unter all diesen Geschichten ein massives Geheimnis lag, an das Ellinor nicht rührte. – Er selbst hätte auch so manches erzählen können und wollen, aber seine Geschichten waren hier nicht gefragt. Daß seine Mutter beim Friseur gesessen hatte, als der Vater für immer ging, das konnte er hier nicht loswerden. Die
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