Heile Welt
Tochter, den Lampion höher zu halten, aber das sah sie dann selbst ein, daß das hier nicht ging.
Zum Schluß liefen sie am Friedhof vorüber, mit den gestutzten Linden. Ein feuchter Wind ließ die Laternen schaukeln, wie gut, daß man sich eine Regenjacke angezogen hatte. Die Grabstätte der kriegsgefangenen Franzosen war längst wieder eingeebnet, dort standen jetzt Ruhebänke, auf denen nie jemand saß.
Bei Kaufmann Claassen an der Ecke ließ ein Auto mit hellem Scheinwerfer den Laternenzug passieren: Der Pastor war es, der kurbelte die Scheibe herunter und fragte:«Na, mein Herr? Laterne gehen?»In Sassenholz habe Lehrer Klein die Laternen selber basteln lassen, aus Zeitungspapier, das wär’ doch’ n ganz anderer Schnack als diese gekauften Kitschdinger. Und: Schifferklavier? Ob das das richtige sei? Er meine, das passe doch überhaupt nicht! Er habe schon viele hundert Laternenumzüge gesehen, aber mit Schifferklavier? – Nein.
Die Laternen erloschen nach und nach, und die Kinder verschwanden eines nach dem anderen, sie blieben gleich zu Haus, sonst hätten sie ja den ganzen Weg noch einmal machen müssen.«War’s schön?»würde gefragt werden, und vielleicht auch:«Warum hast du denn die Kaninchen noch nicht gefüttert?»
Als sich alles verlaufen hatte, machte Matthias noch eine einsame Runde durch das Dorf. Der Großknecht hatte wohl den gleichen Weg, der hatte sein Schifferklavier unter dem Arm, steuerte dann aber den Gasthof an und drängte Matthias in die gleiche Richtung, sprach von«einen ausgeben». Ob der noch irgendwie Dank ernten wollte? Matthias machte sich von ihm los. So ein Schifferklavier habe wohl ein ziemliches Gewicht, sagte er, und toll, wie gut er spielen kann… Aber ihm fällt da noch grade was ein, was er jetzt unbedingt schnell noch erledigen muß…, sagte er und machte, daß er wegkam.
Von dem Hof des Bauern Up de Hoecht kam Klavierspiel herübergeweht. Matthias hatte die Vorstellung, daß der Mann in einer schwarzen SS-Uniform am Klavier säße, mit silberner Fangschnur an der Schulter und Eisernem Kreuz auf der Brust. Vielleicht hatte er den Laternenzug beobachtet, und es war ihm weh ums Herz geworden?
«Vielleicht sind ihm ja auch Erinnerungen an Rußland gekommen? »dachte er, und ihn packte wieder die Angst, was ihm wohl aus der Sache mit der Zeichenmappe erwachsen werde. Was kam da auf ihn zu? Was oder wer hatte ihn geritten, in ein Dorf wie Klein-Wense zu gehen und sich auf solche Sachen einzulassen?«Wenn’s dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis.»
Als er dann wieder zu Hause war, ging er erst noch einmal in den Schuppen, nachgucken, ob die Mappe nicht vielleicht doch noch da ist? Für Sekunden hatte er unselige Glücksgedanken, vielleicht lag sie ja jetzt da? Zurückgebracht von dem Dieb? Reumütig? Diesen Lehrer, der so freundlich zu den Kindern ist, so lieb mit ihnen Laterne geht, den dürfen wir nicht enttäuschen… Oder er hatte nicht richtig hingeguckt, und sie lag groß und breit auf dem Fahrradanhänger? Dort also, wo er sie hingelegt hatte? – Nein, es war nichts zu machen, alles stand an seinem Platz, aber eine Mappe war nicht in Sicht.
Er stieg in sein Zimmer hinauf und stellte das Radio an, Nachrichten aus aller Welt, in denen Klein-Wense noch niemals erwähnt worden war, und er genehmigte sich eine Scheibe Brot mit Griebenschmalz. Es hatte zu regnen begonnen, und die Tropfen rannen wackelig an der Scheibe herab.
Er hätte sich eigentlich vorbereiten müssen für den nächsten Tag, einen Erlebnisaufsatz schreiben lassen:«Als wir Laterne gingen… », und in der Zeichenstunde: Laternen auf diesigem Grund? – Nein, er hatte keine Lust, alles war ihm zum Ekel. Er ging ein wenig auf und ab. Ihm fiel ein, daß er doch einmal mit seiner Mutter Laterne gegangen war, ein einziges Mal, ganz exklusiv, mit einem großen orangeroten Lampion, die erleuchteten Schaufenster entlang, und daß sie ihm die Nase geputzt hatte mit ihrem viel zu kleinen Damentaschentuch. Und dann war der Vater plötzlich um die Ecke gekommen und hatte gesagt:«Na, ihr zwei beiden?»Ihm war auch so, als hätten die Eltern mal ein Lampionfest im Garten veranstaltet, mit Bowle und Zigarrenrauch, und daß er im Nachthemd hinuntergelaufen war und zwischen den Leuten gestanden…
Seine Mutter hatte sich von einem fremden Mann im Arm halten lassen, das Glas in der Hand, und der Vater hatte grade Bowle ausgeschenkt.«Sag’ zum Abschied leise …»Sie war unwillig gewesen
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