Heile Welt
muß, sagte sie. Und da käme nur das Erdolchen in Frage, nicht etwa Gift oder solche Frauensachen.
Matthias war mehr fürs Erwürgen. Wenn’s gegangen wäre, wenn sie ein wenig mehr Wein getrunken hätten, die Luft durch Räucherwerk geschwängert, hätten die beiden das jetzt vielleicht mal ausprobiert.
Sich hinsetzen, die Karten wieder hervorholen und mit Streitpatiencen gegen diese Stimmung angehen. Zwischendurch mal kurz an den Kamin treten und in den Rauchfang hineinlauschen, was da oben verhandelt wird, und dann das Kartenspiel erneut mischen und abheben.
«Sehen Sie?»sagte Ellinor,«da drüben steht er wieder und guckt.»- Am Waldrand, jenseits der Eische, war zwar nichts zu erkennen, aber es war schon möglich, daß da jemand stand und herüberluchste. Matthias hatte da ja auch schon gestanden.
Auf der Autobahn, die Herren aus Bochum, die sprachen jetzt darüber, wie man den KZ-Tod des Künstlers als Zugpferd dem Kulturdezernenten gegenüber einsetzen kann, damit er Geld für eine Ausstellung herausrückt. Leider stand die Karl-Liebknecht-Sache da ein bißchen quer im Weg. Die würde man besser nicht so sehr herauskehren, denn der Kulturdezernent war von der CDU und stammte überdies als gebranntes Kind aus dem Osten. Karl Liebknecht wär’ nicht gegangen.
Auf der Autobahn brausten die Herrn in Schlips und Kragen dahin, und in Klein-Wense spielte die Künstlertochter mit dem Junglehrer Patiencen, das heißt: Sie gewann.
«Übrigens», sagte sie zum Schluß,«die Kegelkugel, die Sie mir geschenkt haben, als Sie zum erstenmal bei mir waren, hat den Leuten gefallen, Sie sollen anrufen in Bochum, wenn Sie noch mehr haben von den Dingern. Fünfzig Mark pro Stück wollen sie zahlen.»
Matthias erhielt eine Telefonnummer, und dann wurde er plötzlich verabschiedet. Der Besuch der Tante hatte schon vorher das Haus verlassen. Der Tag war lang gewesen, und Ellinor hatte getanzt, sie würde es so bald nicht wieder tun. Die Schachtel mit den Cremehütchen, die man ihr mitgebracht hatte, würde sie jetzt gleich an sich nehmen und damit ins Bett gehen.
Ellinor hielt einen Moment inne auf dem Flur und horchte, ob sich oben was rührt, so wie die Tante oben horchte, was da unten nun schon wieder los ist, und dann legte sie den Finger auf die Lippen: Er soll sich nicht mucksen, und griff die große rote, fest verschnürte Mappe mit Kallroy-Zeichnungen und klemmte sie ihm unter den Arm. Einen Augenblick hielt sie ihn noch an der Jacke zurück, dann entließ sie ihn in die Dunkelheit, legte noch einmal den Finger auf die Lippen, keinem was sagen!, hieß das, und dann klappte auch schon die Tür.
Matthias legte die Mappe in den Fahrradanhänger. Er sah die Tante am Fenster stehen. Oder war es eine Täuschung?
Zu Haus schob er das Rad mit Anhänger in den Stall. Er würde die Mappe später hinauftragen in seine Kammer, jetzt war das zu riskant, jetzt würde das vielleicht doch noch jemand beobachten? Überall standen Leute in der Dunkelheit, und alle beobachteten alles.
Matthias legte sich schlafen. An Ellinor dachte er nicht. Und Ellinor mit ihren Cremehütchen dachte nicht an ihn. Sie hatte mehr mit sich selbst zu tun. Mitten in der Nacht war ihm so, als hätte einer gelacht auf der Straße, wie irre gelacht.
Am nächsten Morgen, beim Zähneputzen fuhr er zusammen: Um Gottes willen, die Bildermappe! Die lag ja noch im Stall!
Also hinunterspringen, zwei, drei Stufen, wie er es immer tat. Als er über den Hof ging, sah er es schon: Die Tür stand offen, hatte er denn den Stall nicht abgeschlossen? – Er griff in den Fahrradanhänger, und er griff ins Leere, die Mappe war fort! Er lief ins Haus und holte die Taschenlampe und leuchtete in dem finsteren Stall herum, aber nirgends lag die Mappe.
44
A nfang November ließ der Bürgermeister anfragen, ob die Kinder dieses Jahr denn gar nicht Laternegehen? Bei Frau Schmauch immer so schön und in den anderen Dörfern überall? – Kaufmann Klapproth war auch schon ganz ungeduldig, er hatte vom letzten Jahr noch Lampions liegen, sie lagerten neben den Zuckertüten, er wollte sie nun loswerden, endlich.
Also in Gottes Namen!, dachte Matthias, telefonierte mit Charly, dem Dorfpolizisten in Sassenholz, ob es geht, daß er die Kinder in der Dämmerung die Straßen entlangführt? – Ja, sagte der, aber vorsichtig sein!, und notierte es sich, daß der Lehrer ordnungsgemäß angefragt hat und daß er geantwortet hat: Ja, aber vorsichtig sein. Und an einem trüben
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