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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Dienstag, gegen Abend, trafen sich alle Schüler mit ihren kleinen Geschwistern an der Schule, trudelten nach und nach ein, auch Muttis waren dabei und sogar die großen Jungen aus dem achten Schuljahr, die sich ein bißchen genierten, weil das doch Kinderkram ist, Laternegehen. Zur Konfirmation vielleicht ein Moped kriegen und hier nun Laternegehen?

    Die Kinder wurden eindringlich ermahnt, nicht mit der Laterne zu schwenken, weil sie sich sonst entzündet, und dann steht das Haar des Vordermanns in Flammen, das Kleid gar und so weiter. Brandwunden im Gesicht und an den Händen? Die gehen doch nie wieder weg! Und außerdem tut das aasig weh. Auch den Fahrdamm nicht betreten, und überhaupt.
    Die Kerzen wurden mit dem Feuerzeug angesteckt: Vollmonde, Halbmonde und verschiedenfarbige Zylinder, in Art von Handharmonikas geknifft. Hinni hatte eine Stallaterne mitgebracht, das war nicht so ganz das richtige.
    Dann alle noch einmal schärfstens verwarnen, für die Ohren der Muttis, die es mitkriegen sollten, was für einen tüchtigen Lehrer ihre Kinder haben; daß er jedenfalls nicht einer von denen ist, die die Zügel schleifen lassen. Also immer schön auf dem Gehweg bleiben, nicht auf dem Fahrdamm herumhampeln, und wer es trotzdem tut, der kommt nächstes Jahr nicht wieder mit.
    Im Schulrecht stand vom Laternegehen nichts drin, das war eine außerschulische Angelegenheit.

    Bevor es losging, gesellte sich der Großknecht vom Witthof noch dazu, mit seiner«Treckfidel», das machte der jedes Jahr, der übernahm das Kommando, er zog den Balg mächtig aus und legte los, spielte also Schlager, die er auch auf dem Schützenfest darbot und bei Hochzeiten, die er also absolut beherrschte, und setzte sich an die Spitze des Zuges, von Carlas Hund wild umsprungen.
    Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern,
Keine Angst, keine Angst, Rosmarie!
    Die Kleinen hielten ihre Laternen in die Höhe und drängten sich an den Lehrer, und obwohl doch die Mütter dabei waren, faßten sie ihn an der Hand, wobei die dünne Ursula leer ausging, die hakte sich ein und drängte sich um so dichter an ihn. Und dann wurden die alten Lieder angestimmt:
    Laterne, Laterne,
Sonne, Mond und Sterne…
brenne auf mein Licht, brenne auf mein Licht,
nur meine liebe Laterne nicht…
    Aber die Kinder kamen mit ihren dünnen Stimmen nicht an gegen das Schifferklavier. Matthias ging also nach vorn und sagte zu dem Großknecht, nein, das wollen wir hier nicht, Schlager…, aber da protestierten die Muttis, die fanden das flott, was der da spielt. Na, denn in Gottes Namen.
    Neumodische Laternelieder, die in dem pädagogisch so wertvollen Buch:«Liedgut heute»angepriesen wurden, vom Licht, daß das im Dunkeln leuchtet, setzten sich in Klein-Wense nicht durch, an denen hatte sich schon mancher Lehrer die Zähne ausgebissen. Schlager hingegen wurden freudig angenommen, man muß schließlich mit der Zeit gehen.

    Die Route ergab sich von allein. Die Platanenallee entlang und ins Dorf hinein. In der neuerbauten Landhandelsvilla brannte Licht, da war der Herr Cordes mit seiner um so vieles jüngeren Frau bereits eingezogen. Neben der nagelneuen Haustür hing eine Straßenlaterne im altschmiedeeisernen Stil, die wurde angeknipst, als die Kinder vorüberzogen, ein bißchen zu hell das Dings, dagegen kamen die Laternen ja gar nicht an.
    Danach mußte sich das Auge erst wieder gewöhnen an die Dunkelheit.
    Marieken sitt in’ n Kellerlock und all de Melk is öwerkokt…
    Den Fußweg an der Eische ließ man lieber aus, sonst fällt womöglich einer ins Wasser, und die tuten dann in Hörner und suchen mit Stangen und Keschern die ganze Nacht nach der Leiche, und in Bremen wird sie ein halbes Jahr später angeschwemmt, und das ganze Dorf macht Front gegen den Lehrer, dies Herumlaufen mit Laternen, was das eigentlich soll, und die Kollegen: So ein Leichtsinn! Und der Schulrat: Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Und im«Pädagogik-Wegweiser»wird es diskutiert: Was für eine Unvernunft! An einem reißenden Fluß entlangzugehen, durch keinerlei Geländer geschützt, mit Kindern, noch dazu in tiefster Dunkelheit. Und bei der Beerdigung schütteln die Bauern dann die Fäuste in seine Richtung, und er muß sich dann versetzen lassen in ein Industriedorf, wo die Kinder nicht so sanftmütig sind wie in Klein-Wense… – Vom Kallroy-Haus aus wäre das ein hübscher Anblick gewesen, die vorüberziehenden Kinder mit den mild leuchtenden Lampions, auf-und abwippend, im

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