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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ein neues Kunststück einzupauken würde allerdings schwierig sein. Bis zu Hundetheater würde man es jedenfalls nicht bringen. Im übrigen: Sperling und Hund – nun war es zu Franz von Assisi nicht mehr weit.

    Matthias öffnete die Fenster und zog sich, ein Lied pfeifend, an, wobei er hinausblickte auf die sonnenbeschienenen Dächer des Dorfes. Aus allen Schornsteinen stieg Rauch auf, und erste Trecker pufften die Straße entlang. Rechter Hand lehnte sich der Opa bereits wieder aus dem Giebelfenster, und auf dem Hof gegenüber wurden Milchkannen gewaschen, man konnte es hören, aber nicht sehen. Matthias blieb am Vorderfenster stehen, bis das Scheppern aufhörte: Vielleicht würde sich ja«Carla»blicken lassen… Möglicherweise stand sie jetzt ja auch in der Küche und hielt Ausschau nach ihm, über die Fenstergardine hinweg, ob er sich blicken ließe? Der Spitz würde von ihr empfangen werden, als Bote würde er jedoch nicht taugen.
    Matthias strich sich ein Brot und sah auf den Lehrergarten hinunter, der Kirschbaum, die Laube, die Grabhügelbeete.
    Auf dem Schulhof der einsame Birnbaum, Tafellappenspuren am Stamm. Der Wind kräuselte den Staub. Die Schulklos, deren offene Türen klappten, und daneben die zugewachsene Sprunggrube mit der zugewachsenen Anlaufbahn. Es war lange her, daß Matthias mal drei Meter fünfzig gesprungen war. Anläßlich der Pimpfenprobe hatte er das geschafft. Hart, tapfer und treu. Damals hatte man ihn als nassen Sack bezeichnet, und die Mädchen am Zaun des Sportplatzes hatten über ihn gelacht.

    Nun hinuntergehen und die Klasse inspizieren, das Wirkungsfeld, den pädagogischen Raum, in dem er die Kinder in freischaffender Tätigkeit zu sich selbst führen würde: Kinder sind im Grunde gutartig, man muß nur Geduld haben mit den kleinen Seelen. Interessant würde es sein, auf welche Traditionen man hier stieß. Daran nicht rühren, nichts einreißen, eher darauf aufbauen; an einer Art menschlichem Hundezirkus war er nicht interessiert. Matthias nahm das Augenmodell unter den Arm und stieg die Außentreppe hinunter.

    In die Klasse zu gelangen war einfach: Man konnte sie von der Küche aus erreichen. Ein kleines Treppchen mit Geländer führte hinab in den Klassenraum. Genauso einfach, wie man hineingelangte, war es folglich, während des Unterrichts eben mal schnell in die Küche zu verschwinden. Matthias stellte sich seinen Vorgänger recht dick vor, als Glatzkopf mit halber Brille. Während der Stillarbeit in der Küche einen Schnaps trinken und in der großen Pause zwei Spiegeleier mit Brot auftupfen.

    In dem großen blaßgrünen Klassenraum standen auf jeder Seite vier Viererbänke, galeerenartig hintereinander ausgerichtet. Die hinteren waren eine Nummer größer, die vorderen eine Nummer kleiner. Das Holz von Kindergenerationen blankgewetzt und in der Maserung eingedrückt. Eingelassene Tintenfässer in den Pulten, und die Sitzflächen zum Vorziehen, wenn Schönschreiben angesagt ist. Nach hinten kann man sie wegschieben, wenn mal einer rausmuß. Um Gottes willen, nicht den Finger dazwischenkriegen!
    An der Wand gegenüber stand ein schwarzes Klavier mit Goethe-bild oben drüber, jenes Bild, auf dem der Olympier so Glotzaugen hat. Zwar Glotzaugen, aber mit Ordensstern. Vorher hatte an dieser Stelle wohl das Führerbild gehangen, auch mit Glotzaugen, aber mit EK, damals, als es noch den Tag der Wehrmacht gab. Matthias stellte das Augenmodell auf das Klavier: Das Lid konnte man aufklappen, wie bei einer Bauchrednerpuppe.
    Er schlug einen Akkord an auf dem verstimmten Klavier, und er sah seinen Vorgänger, den Herren Schmauch, am Klavier sitzen, und er hörte die Kinder singen:
    Heilig Vaterland in Gefahren
Deine Söhne sich um dich scharen…
Sieh uns all entbrannt,
Sohn bei Söhnen stehn…
    Herr Schmauch, in zwei Kriegen mitmarschiert, und außerdem noch in der SA?
    «Am Sonnabend trifft sich die SA»: Wie soll man sich raushalten, wenn der Bürgermeister Breeches trägt?

    Matthias drehte sich um: Vor der Schiebetafel stand das Podest mit Lehrerpult und Lehrerstuhl, aus Eiche getischlert und mit Stirb-und Werde-Schnitzwerk versehen – hier war der gleiche Künstler tätig gewesen wie auf dem Bahnhof in Kreuzthal. Der gleiche Lebensbaum war zu sehen, grün mit roten Früchten, nur schwarz übermalt.
    Matthias setzte sich hinter das Pult und ließ den Blick schweifen über die Bänke, hinüber zum Klavier mit dem Auge obendrauf, das ihn ernst anblickte.
    Die Frühlingssonne

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