Heile Welt
versehen war, aber leer blieb. Vielleicht war der Mensch, der sonst hier saß, schon gestorben, oder er lebte in Hader mit Gott und Pastor? Oder mit der ganzen Welt. Irgendeiner dieser Pechvögel, die nicht zurechtkommen mit dem Leben? Die irgendwann einmal irgend etwas falsch gemacht haben, unkorrigierbar, einer, von dem gesagt wird:«Der hat doch damals…»
Die einfache Orgel wurde ziemlich robust traktiert – eine Art Waldkirch-Instrument -, man konnte den Kantor auf den Pedalen herumtrampeln hören, und die Gemeinde – links die Männer, rechts die Frauen – sang mit Inbrunst und viel Gefühl.
«Geh aus, mein Herz, und suche Freud, in dieser schönen Sommerzeit…»Das war so richtig was für die Leute, obwohl von Sommer ja noch keine Rede sein konnte. Von diesem Lied sang man gern alle zwölf Strophen.
Das dreiteilige Altarbild an der Chorwand war neueren Datums, es stammte aus den zwanziger Jahren und zog den Blick sogleich auf sich, bis ins Gewölbe hinein reichte es. Das Himmlische Jerusalem war auf dem Triptychon dargestellt, mit zwölf Perlentoren und Gassen aus lauterem Gold. Die Menschen auf dem Bild waren alle etwas in die Länge gezogen, auch die Engel mit ihren überlangen Posaunen. Die Wolken über der verheißenen Stadt kamen einem bekannt vor, die ähnelten ein wenig dem Turm der blauen Pferde.
Die Landschaft um die Stadt herum war eher norddeutsch, der Maler schien sich in der Börde gut ausgekannt zu haben.
Was für ein schönes Bild!, dachte Matthias, und er fragte sich, ob Sassenholz für ihn vielleicht so etwas wie das neue Jerusalem werden könnte, zwar ohne Perlentore und goldene Gassen, aber Einkehr ermöglichend und«Heimkehr»verheißend. Daß die vier silbernen Altarleuchter wie sich ringelnde Schlangenleiber geformt waren, befremdete ein wenig, besonders an einem Tag, an dem das Zwitschern der Vögel von außen hereindrang.
Das Kruzifix auf dem Altar war merkwürdig gearbeitet. Man hatte den Eindruck, als lehne sich Jesus irgendwie gemütlich an den Kreuzesstamm, die Beine übereinandergeschlagen. Weinreben umrankten ihn. Der Maler des stilvollen Altarbildes, das war zu bemerken, hatte das alte Kruzifix mit einbezogen in sein Gemälde. Der Schatten des Kreuzes legte sich auf die himmlische Stadt. Im übrigen hatte er auf den Seitenflügeln die unbequemen Alternativen zu Zion sichtbar gemacht: den sich mit einem Pflug schindenden, düster dreinblickenden verknorrten Adam, ein bißchen wie der alte Freede sah er aus, Krähen fliegen hinter ihm her – und Eva, mit langen schwarzen Zöpfen, am Spinnrad sitzend mit Kindern, Hühnern und einem Kalb.
Die Stufen zum Chorraum aber waren wie eine Predella mit stilisierten Skeletten versehen, weiße Knochen auf schwarzem Grund, Unterwelt symbolisierend, in die alle Welt hinabfährt, unweigerlich. Während des Gottesdienstes war man gezwungen, sie zu betrachten. Die Stufenbilder hatten von Anfang an für Kontroversen gesorgt – die Nazis hatten darin eine Verunglimpfung der SS gesehen -, und der Tag war zu erwarten gewesen, an dem alles übermalt werden würde, das Triptychon mit der himmlischen Verheißung und der Weg in die Unterwelt, Stufe für Stufe, immer tiefer hinab, wo nicht der Teufel wartet mit Feuerlohe und höllischem Gelächter, sondern das modrige Nichts.
Alle Einzelheiten der künstlerischen Ausgestaltung waren ohne weiteres plausibel, aber sie gaben eine Menge zu denken, und das lenkte eben doch sehr von der Predigt ab.
Der Pastor, ein Mann mit Goldbrille, predigte über den ungläubigen Thomas. Daß Jesus die Jünger«anblies», stellte er besonders heraus. Es komme ihm merkwürdig vor, sagte er, daß es kein Gemälde gebe, auf dem das zu sehen wäre, wie Jesus die Jünger anbläst. Unzählige Male sei zum Beispiel Petrus dargestellt worden, der es dem auf dem Wasser wandelnden Heiland gleichtun will und dann ins Wasser einbricht, von Jesus durch Handreichung gerettet…
Oder – nicht ganz so oft – Maria, die Füße des Herrn, mit ihrem Haar trocknend…
Jesus habe die Jünger angeblasen wie Gott Vater den aus Lehm gekneteten Adam – und wenn nachher auf dem Heimweg ein lauer Wind die Wohlgerüche der zur Vollendung drängenden Natur ihnen entgegenblase, dann sollten sie an den Heiland denken, das sei dann ein Zeichen… und dann werde das Herz in uns brennen, zu Jesus hin.
Matthias hatte die Hände auf dem Schoß liegen. Von innen waren sie einigermaßen wohlgestalt, nach außen waren die Finger eher
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