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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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krallenartig gekrümmt, bis vor kurzem noch mit einem Verlobungsring versehen. Geben ist seliger denn nehmen. Lilli hatte sich immer über seine Hände gewundert, was für merkwürdige Hände er hat. Sonst ganz zufrieden mit ihm, die Tolle zum Beispiel, die manches herausriß, so jungenhaft?, aber die Hände! Sie selbst hatte unvorteilhaft ausgesehen an ihrem letzten Tag, eine enorm graue Gesichtsfarbe und die kleinen Narben darin – als Kind sich zu viel gekratzt. Er sah sie noch auf die heiße Bratwurst pusten, Geld schuldete er ihr dafür, das war eine Rechnung, die offenbleiben würde.

    Die blonde Lilli. Vorbei, irgendwie Gott sei Dank. Aber – wer weiß, vielleicht sähe man sich eben doch noch einmal wieder? Ob sie nicht einfach mitkommen soll?, hatte sie gefragt: alles im Stich lassen? Auf dem Bett gelegen, die erleuchtete Skala des Radioapparates; hatte sie geweint?

    In das Kirchenschiff war eine grob gezimmerte und wie Marmor angemalte Empore eingezogen, wie ein erster Rang im Theater. Viel Platz wurde in dieser Kirche gebraucht, weil vier Dörfer zum Sprengel gehörten – Sassenholz, Westereistedt, Ostereistedt und Klein-Wense – und weil die Bauern noch immer abergläubisch genug waren, es mit dem lieben Gott nicht verderben zu wollen, also relativ fleißig zur Kirche gingen.
    Die Balustrade des Einbaus war mit düsteren Kreuzwegdarstellungen behängt, die hatten lange auf dem Dachboden gelegen, irgendwann entdeckt vom Kreismuseumswart und jubelnd hervorgezogen: Die Gesichter der struppigen Kriegsknechte waren norddeutsch, wie die Landschaft auf dem Altarbild, das war etwas Verbindendes. Zwei Welten waren das, die eine ohne die andere nicht denkbar.
    Nach Schluß des Gottesdienstes blieb Matthias noch ein wenig sitzen, damit ihn die Leute in Ruhe begucken konnten. Er selbst besah sich die verknorrten Männer und die ausladenden Frauen. Der Kantor spielte dazu eine eigensinnige Version zu dem Kanon: Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, immer wieder von vorne begann er und kam doch nicht zu Ende.

    Die Dame mit dem FIAT war leider nicht zu sehen, dafür war Carla Freede auszumachen, die ihre Zöpfe aufgesteckt hatte. Sie stieß gegen das Gestühl und kriegte einen roten Kopf, als sie an seiner Bank vorüberdrängte. Eine bestickte Bluse trug sie, mit Jäckchen, und einen rostfarbenen Rock. Die Beine stark behaart, soviel man sehen konnte.

    Der Pastor hatte mitgekriegt, daß da einer sitzenbleibt im Gestühl, obwohl jetzt eigentlich hier Schluß war. Schweinebraten mit Rotkohl wartete schon! Und da ging er eben auf dieses Menschenkind zu, das vielleicht etwas auf dem Herzen hatte, ein Fremder, soweit zu sehen war.
    Matthias stand auf und nannte seinen Namen, ohne h und mit ck, er sei der neue Lehrer in Klein-Wense und so weiter, wobei er seine Herkunft einigermaßen im dunkeln ließ. Die bunten Glasscherben seiner Vergangenheit gingen niemanden etwas an.
    «… unser kleines schönes Wense…», sagte der Pastor, und: aha, aus Mitteldeutschland. Und der Vater? – Beamter sei der Vater gewesen? Und dann Volkssturm und so weiter? – Nach der Mutter erkundigte sich der Pastor nicht.
    Hingegen hielt er dem Neuling einen Vortrag über Mitteldeutschland. Ein Bundesbruder aus Tübingen, sagte der Pastor, ein tüchtiger Dogmatiker, stamme zum Beispiel von der Insel Rügen. Und der Konfrater von der Klosterkirche zu Kreuzthal aus Löbau in Sachsen. Reinsten Wassers.

    Matthias freute sich, daß er nicht womöglich zu sagen gezwungen war, daß er aus Löbau stammte – Norddeutschland machte sich irgendwie besser. Das assoziierte Blondheit und Segelboote. Die Mädchen tragen eine weiße Mütze mit rotem Bommel obendrauf. Ernsthafte Menschen wachsen in Norddeutschland, ein treuer, starker Menschenschlag, wie hier in der Börde, da leben ja auch handfeste Geschlechter.

    Der Pastor hieß Ortlepp. Er sah Matthias direkt ins Auge mit seinem klaren Goldrandbrillenblick und packte ihn ein wenig an der Schulter, nannte ihn seinen jungen Freund. Er sah auf die Uhr und lud ihn zu einer Besichtigungstour ein. Sich erst mal umsehen, wo er hier gelandet ist, die Kreuzthaler Börde, ein schöner Landstrich mit eigenwilligen Leutchen.

    Weil sich das gerade so machte, stellte der Pastor ihm eben noch schnell den Organisten vor, der schlüsselklirrend die Turmstiege herunterkam, auch ein Schulmeister, ein Kollege also, namens Klein. Der Mann, der aus Schlesien stammte, freute sich und fragte, ob er ihm die Orgel

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