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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Frösteln. Es half ja alles nichts, jetzt wurde es ernst mit dem Lebensstart, mit dem dritten Lebensstart, dem letzten, wie zu hoffen war. Wenn der mißlänge, dann wäre alles aus.

    Im Windfang vor der Schultür, den der örtliche Malermeister links mit abfliegenden und rechts mit nach Hause kommenden Schwalben dekoriert hatte, standen drei Mütter mit je einem stark nach Seife riechenden Kind. Die Kinder hatten übergroße Schultüten im Arm und einen links und rechts überstehenden Tornister auf dem Rücken, sie waren fahl vor Angst, und den Müttern war auch nicht so ganz wohl. Zwei der Kinder hielten einander sogar umklammert, Gitte und Luers hießen sie, Nachbarskinder, die ließen einander nicht los. Wer konnte denn wissen, was hier noch alles passiert? Man hatte nicht versäumt, ihnen mit Horrorgeschichten Angst vor dem Lehrer einzujagen.
    Von rechts guckte Opa Fitschen aus dem Fenster, und gegenüber stand der alte Freede am Zaun, im Garten stützte sich Anita, die korpulente Tochter des reichen Bauern Fitschen, auf die Harke. Sie hatte Lehrer Schmauchs rechte Hand sein dürfen und bewahrte noch ein Halskettchen, das er ihr zum Schulabschluß geschenkt hatte.

    Matthias gab den Müttern die Hand und tätschelte die Kinder nach Lehrerart.«Ja, also denn -», sagte eine der Mütter und schob ihm ihre Tochter hin – Ursula hieß sie, und sie hatte sehr dünne Beine -, und das sollte heißen:«Die vertraue ich Ihnen nun an…»Matthias sagte:«Ja, das hilft ja nun nicht», und er nahm die kleine Gesellschaft mit hinein.

    Im Klassenzimmer standen die Schulkinder bereits in den Bänken, klein und groß, den Lehrer zu begrüßen. Die Mütter mit ihren Kleinen postierten sich an der Tür, und Matthias stellte sich vor die Klasse, und die Kinder sangen ihm das schöne Lied:«Liebster Jesu, wir sind hier…», dieses Lied würde er noch öfter zu hören kriegen, das war ihm ohne weiteres klar. Als sie damit fertig waren, sprach das Kind, das gerade an der Reihe war, das Frühgebet:
    Wie fröhlich bin ich aufgewacht
wie hab ich geschlafen so«samps»die Nacht
Hab Dank du Vater im Himmel mein,
daß du hast wollen bei mir sein…
    Amen! sagten alle, und Matthias neigte den Kopf vor ihnen. Das Kopfneigen war die Grundlage, auf die er seine Arbeit in Klein-Wense stellen würde, und er sagte laut:«Guten Morgen.»- Einerseits demütig sein vor der schweren Aufgabe und achtungsvoll den kleinen Menschlein gegenüber, andererseits immer forsch sprechen, gradeaus blicken – das hatte Petersen geraten. Irgendwie ist man als Lehrer auch Dompteur: nicht nuscheln und keine fahrigen Bewegungen machen. Klare, unmißverständliche Anweisungen und immer alle Kinder im Blick haben, damit man sofort bemerkt, wenn sich irgendwo etwas zusammenbraut.«Wenn die Kinder was aushecken, das spürt ein erfahrener Pädagoge meistens schon lange vorher.»Forsch und aufmerksam, und darüber hinaus gütig sein, das nahm Matthias sich vor.
    «Ich werde ihr Vater sein. Und auf der Hut, das werde ich auch sein.»

    Nun waren die drei Abc-Schützen unterzubringen. Vorn in der ersten Reihe war eine Bank mit Blumen bekränzt – das hatten die großen Mädchen gemacht. – Matthias lud die Kleinen ein, sich dorthin zu setzen, und er plazierte die Kinder des zweiten Schuljahrs als Patenonkels und Patentanten daneben. Ob sie Gedanken lesen können?, fragte Matthias sie. Wenn er mit dem rechten Ohr wackelt, denkt er: Jetzt müßten die Kinder aufstehen… Wenn er mit dem linken Ohr wackelt: Jetzt müßten sie sich alle melden… Er wackelte also mit den Ohren, und das gab erst mal eine frische Atmosphäre.
    Dann mußten die Mütter hinausgeleitet werden. Das war nicht leicht, zumal die Mutter der dünnen Ursula ihre sämtlichen Schulerfahrungen loswerden wollte: Sie schickte sich sogar an, auf der vordersten Bank neben ihrem Kind Platz zu nehmen, dort habe sie als Kind gesessen, bei Lehrer Schmauch, und Matthias rechnete mit den Fingern nach, ob das überhaupt stimmen konnte. Schmauch habe ihr das Rechnen gelernt, sagte sie, und irgendwie mußte das hier nun beendet werden, und wurde es dann auch. Die Mütter wurden verabschiedet, sie nahmen die Zuckertüten erst mal wieder mit.
    Gottlob rannte keines der Kleinen hinter seiner Mutter her! Dieser Fall war im Seminar nicht erörtert worden. Durch eine solche Seelenaufwallung hätte alles durcheinandergeraten können. Matthias sah, wie der Knabe Luers seine Nachbarsfreundin fest bei der Hand hielt, bloß

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