Heile Welt
ein Auto vor, das war der Fotograf Wacker aus Kreuzthal, der die Klasse fotografieren wollte, das sei so üblich, zu Beginn jedes Schuljahres, in Westereistedt sei er schon gewesen, und dort sei alles reibungslos verlaufen…
Also wieder alle raus auf den Hof, vorn die Kleinen, dahinter die Großen und dahinter die ganz Großen. Und dann jeder einzeln. Ein Junge meldete sich, das darf er nicht, sich fotografieren lassen, weil das eine Mark kostet, letztes Jahr habe sein Vater mächtig geschimpft.
Dann also nicht, sagte der Fotograf, der links oben keine Zähne hatte, dann muß er sich an die Aschenkuhle stellen, zur Strafe, und zugucken. Aber nächstes Jahr soll es ihm nicht einfallen zu sagen, diesmal will ich! Dann braucht er gar nicht erst zu kommen, er merkt sich das,«mir kann man nichts vormachen!», und er guckte Matthias wütend an, der ja auch nichts dafür konnte.
Danach wurden die Kleinen nach Hause geschickt, Gitte mit Luers, ihrem Nachbarsfreund, getrost Hand in Hand, sie waren schulreif, und das war doch schon mal was!, und Ursula hüpfend. Auch Matthias hatte seinen ersten Schultest bestanden, das«i»war akzeptiert worden, das war als reife Frucht vom Baum gefallen, morgen diesen Buchstaben schreiben , und dann ohne große Umstände das O angehen.
Nun mußte sich Matthias den Großen zuwenden. Ein guter Rat des alten Petersen war gewesen: Von vornherein zeigen, daß man das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand gibt, deshalb inszenierte er jetzt mit den Größeren eine Ausforschungssituation, damit jeder Schüler zunächst ein bißchen Angst kriegt, in der man ihn ein bißchen zappeln läßt. Und dann wieder loslassen, und zwar nach Möglichkeit mit einem Scherz.
«Jeden Tag müssen die Kinder wenigstens einmal herzhaft lachen.»Matthias ließ also die Schultaschen hervorholen und schnüffelte darin herum. Die Projektmappen, was da alles drin ist und wie sie geführt sind, ob liederlich oder akurat, und er machte sich zum Schein Notizen in sein Büchlein.«Die Alpen als Verkehrshindernis», so hieß tatsächlich eines der Themen, die sein Vorgänger gestellt hatte,«der Harz als Trinkwasserspeicher»ein anderes. Gepreßte Blätter:«Linde»!, und das Kriegerdenkmal, vor Ort abgezeichnet.
Er ließ sich auch die Bücher zeigen und die Hefte, wobei schnell zu sehen war, was er da für Pappenheimer sitzen hatte, ziemlich schlimmes Geschmiere bei den Jungen und äußerst saubere Buchstabenreihen bei den Mädchen. Aber eben auch einige Mädchen schlimm und einige Jungen brav. Nachdem das erledigt war, zog Elfriede, das große schwere Mädchen, ein Poesiealbum hervor, ob er da mal was reinschreiben tut. Ja, sagte Matthias, aber das nimmt er erst mal mit, das macht er dann zu Hause.
Freu dich über jeden Dreck
Setz dir über alles weg
Und dann fragte er nach Taschentüchern, ob jedes ein Taschentuch bei sich hat, nein? Na, also…
In der vierten Stunde holte er seinen Casala-Drehstuhl und setzte sich zu ihnen: Das waren ja schließlich jetzt«seine»Großen, und dann sprach er über die Exhumierung der toten Franzosen. Zweiter Weltkrieg! Das Leid, das dieser Krieg über die Menschen gebracht hat und so weiter und so weiter… Wenn jeder Tote nur 1 m 3 einnimmt, dann sind das bei 30 Millionen Toten 30 Millionen Raummeter, also das ist ein Würfel von einer Million Meter Kantenlänge, das sind wieviel Kilometer? 30000 Kilometer, jawohl, also beinahe einmal um die Erde rum und das dann 30 Kilometer hoch und breit… Irgendwas konnte nicht stimmen an der Sache, das schwante Matthias, und er brach sein Rechenbeispiel ab und ließ es auf sich beruhen…
Alle hatten es mitgekriegt, daß die französischen Beamten nur ein paar Rippen in den Sack getan hatten, und Matthias wußte nicht, ob er dazu irgendwie Stellung nehmen sollte? Am besten ausreden lassen die Sache, nicht abstoppen irgendwie.
Mal Hand heben, wer einen Kriegstoten in der Familie hat! Das taten die Schüler, und dann wurde nicht nur von Vätern geredet, sondern auch von Opas. Die Heldentafel wurde von der Wand genommen, und jeder zeigte seine Verwandten, mal mit Mütze, mal ohne, zwei sogar mit Stahlhelm und einer von der SS. Von zweien fehlte das Foto, von denen wußte man nicht mal mehr, wie sie ausgesehen hatten.
Ein älterer Junge sagte, sein Vater sei vermißt…
Damit war nun wenig anzufangen. Vermißt? Das klang so, als laufe der noch irgendwo im Wald herum.
Matthias verzichtete darauf, von seinem eigenen Vater zu reden, der
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