Heile Welt
nicht loslassen, den einzigen Halt, dann kann uns nichts passieren!
Nun bemerkte Matthias, daß sein Lehrerpult fehlte. Man hatte ihm das Pult weggenommen!, sein schönes Pult!, und das Podest dazu, und man hatte ihm statt dessen einen Schulschreibtisch hingestellt, ein Fabrikat der Firma Casala, und einen nagelneuen Drehstuhl dazu, ebenfalls von Casala. Das war eine Geste der Gemeinde, gutgemeint, aber schlimm. Matthias klemmte sich hinter den Tisch und sah die Kinder an. Das war eine schöne Bescherung! Sein schönes Pult! Also nicht mehr von oben herab, über den geschnitzten Lebensbaum hinweg aus sicherer Hut den Blick über die Kinder schweifen lassen, bis hin zum Klavier, auf dem das Lehrmittelauge ihn ernst anblickte, kein Aufschauen der Kinder mehr zu ihm, was ein für allemal die Rolle festlegte, die hier zu spielen war. Man hatte ihn entthront, ohne daß er inthronisiert worden wäre. Also nicht«Lehrer spielen», sondern tatsächlich sein.
Matthias ließ weitere Lieder singen:«Mal sehen, was ihr alles könnt…», und während die Kinder sangen, übrigens wirklich«sangen», nicht schrien, sammelte er sich. Dem Mädchen Marianne nickte er zu: Wir sind ja schon alte Bekannte… Die Katze hatte sie mitgebracht, die hatte sich auf der Fensterbank ein Plätzchen hergerichtet. Katze, Goldfisch, und warum nicht Hühner in der Klasse herumspazieren lassen? Auf einer Tenne unterrichten, mit einer Kuh in der Ecke, und vom Heuboden aus hängt Heu herunter?
Sein schönes Pult… Der Schreibtisch war etwas zu niedrig, er stieß mit den Knien an. Die Schublade ließ sich öffnen, da lagen die Akten, der Lehrplan und der Wochenbericht. Da lag sogar der Stock! Matthias holte ihn heraus, um ihn im Schreibtischschrank unterzubringen. Als die Kinder den Stock sahen, gab’s im Gesang ein plötzliches Decrescendo… Das tat ihm leid, er packte den Gottseibeiuns weg und stand auf. Er wußte in diesem Augenblick, daß er sich wohl nie wieder an diesen Tisch setzen würde. Lieber ans Fenster lehnen und hinaussehen, als hinter diesem Möbelstück zu hocken.
Um die Stimmung etwas aufzulockern, veranstaltete er das Namenspiel, das Petersen für solche Fälle empfohlen hatte: Er selbst heiße Jänicke, ohne h, aber mit ck, und dann ließ er sich nacheinander die Namen sagen, und dann repetierte er, ob der Lehrer sie auch behalten kann. Oder ob er vielleicht so dumm ist und sie sofort wieder vergißt? Erst drei Namen, dann fünf und dann von vorne wiederholen und jedesmal in Ohnmacht fallen, wenn man einen vergessen hat. Und zwischendurch auch mal mit den Ohren wackeln. Das wurde also jetzt gespielt, und das machte den Kindern Spaß, die Großen sagten hö, hö!, und sogar die drei Kleinen lachten, die hatten gar nicht erwartet, daß es in der Schule auch mal was zu lachen gibt.
Dann wieder ein Lied anstimmen – zwanzig Minuten rum -, und:«Kennt jemand ein Gedicht?»Ja, Gedichte kannten die Kinder.
Von drauß vom Walde komm ich her;
ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr…
Das ja nun nicht, Weihnachten war ja schon’ne Ecke weg, aber:
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
Das ja, das konnte man gelten lassen. Elfriede, das größte Mädchen, absolut ausgereift, schon fast eine«Maschine»zu nennen – beim Schlachtfest frisches Wellfleisch essen -, wurde beauftragt, ein Verzeichnis aller Lieder und Gedichte aufzustellen, das würde er sich vorn auf den Tisch legen: diesen Schatz zyklisch wiederholen, und ab und an kommt was Neues dazu, und wenn der Schulrat visitiert, eines Tages, damit mußte man rechnen, o Gott! dann ist die erste Viertelstunde schon gelaufen, weil man ein Lied nach dem anderen singt und zwischendurch Gedichte, und der ist dann ganz verblüfft und schreibt in seinen Bericht eine positive Bemerkung, die dann irgendwann zu Buche schlägt.
Die erste Stunde ging schnell herum. Den Kleinen wurde ein Märchen erzählt, in dem der Buchstabe«i»eine Rolle spielte, die Großen schrieben einen Aufsatz über das Thema:«Wie ich damals zur Schule kam», wobei sie noch Zeit fanden, dem Lehrer zu lauschen, denn das Märchen war für sie auch interessant.
Von einem der auszog, das Gruseln zu lernen…
«Und was sah der arme Junge? ‹Iii!›, einen Totenschädel, aber es gruselte ihn nicht.»
Die Großen hatten vor sieben oder acht Jahren am ersten Schultag«Heiner im Storchennest»erzählt bekommen, das tischte Matthias den Kleinen nicht auf, das war aus der Mode.
In der Pause gab es eine
Weitere Kostenlose Bücher