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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Überraschung. Ein Auto fuhr auf den Hof. Es war der Schularzt. Mit seinem dem Licht zugewandten Gesicht trat er in die Klasse: Er hatte vergessen, die Schulanfänger zu testen! Nun ja, das war ja jetzt eigentlich zu spät, die Kleinen hatten ja schon ihren Platz gefunden, aber das brauchte man wohl nicht so genau zu nehmen. Dr. Feist hieß der Schularzt. Im Herbst jeden Jahres mußte er die Schluckimpfung durchführen, und zu Ostern hatte er die Schulanfänger zu testen, zwischendurch hielt er Vortragsreihen über Haltungsschäden:«Die Büchertaschen sind auf dem Rücken zu tragen, nicht unter dem Arm.»- Mit dem jährlichen Röntgen hatte er nichts zu tun, und auch die Zahnuntersuchung machte ein anderer. Keine Ahnung, was er sonst noch trieb. Vielleicht irgendwelche Studien?

    Der Arzt zog sich seinen weißen Kittel an, stellte sich einen Stuhl ans Fenster und testete die Kleinen, und das ging so vor sich: Er nahm ein Kind zwischen die Beine, fühlte ihm die Oberarme ab, drehte es um und drückte ihm dann von hinten die Schulterblätter rein. Dann mußte das Kind den Satz nachsprechen:«Ich gehe in den Wald und pflücke viele bunte Blumen…»Dr. Feist sagte den Satz besonders schön vor, da es sich ja auch um etwas Schönes handelte, eine Art Lyrik. Er ließ goethischen Glanz auf seinem dem Lichte zugewandten Gesicht erstrahlen:«Ich gehe in den Wald und pflücke viele bunte Blumen», wer konnte da widerstehen? Alle drei vollbrachten es ohne zu stocken und in der Diktion ganz ähnlich wie der Arzt.

    Dann mußten die Kinder bis vier zählen, und Dr. Feist hob Ah!-Sage-Stäbchen in die Höhe und fragte:«Wieviel Stäbchen sind das?»Er hob zwei, drei und auch mal eines und schließlich vier in die Höhe. Ja, sie beherrschten den geforderten Zahlenraum von eins bis vier auf hochdeutsch und auf platt, und das war ja mal wieder wundervoll! Der Arzt entnahm Pfefferminzpastillen einer kleinen Blechdose, eins-zwei-drei-vier! Er selbst schluckte eine, und dann durfte jedes Kind zulangen.
    «Eins, zwei, drei – vier!»
    Nun forderte er die Kinder auf, mal eben mit der linken Hand über den Kopf hinweg das rechte Ohr anzufassen. Ja? Ging das? Ja, es ging. Wenn die Kinder auch das vollbringen, sind sie schulreif. Dann sollten sie auf Zetteln ein Männchen zeichnen. Hoffentlich würden es keine Kopffüßler werden! Wer noch Kopffüßler malte, stand auf niedriger Entwicklungsstufe, der mußte zurückgewiesen werden und nächstes Jahr wiederkommen. Die drei packten es, die dünne Ursula zeichnete ihrem Männlein sogar deutlich sichtbar einen Strich zwischen die Beine. Die erste Lebensprüfung war bestanden, andere würden folgen.

    Obwohl die Pause längst zu Ende war – die Mädchen spielten Gummitwist und die Jungen Fußball -, redete Dr. Feist des langen und breiten auf Matthias ein. Immer schön lüften und auf Haltungsschäden achten. Er habe Lehrer Schmauch gut gekannt, all die Jahre! Ein tüchtiger Lehrer, aber natürlich mit Problemen, wie wir alle unsere Probleme haben…

    Es hätte Matthias interessiert, ob der Schularzt ein vollständiges Medizinstudium zu absolvieren gehabt hatte, mit Physikum und allen Schikanen, um einen solchen Schultest veranstalten zu können? Neurologie, Physiologie und Pathologie? Leichen aufschneiden? Kinderleichen? Danach fragte er natürlich nicht.
    Um etwas zu sagen, flüsterte er dem Arzt zu, die beiden Kleinen dort, diese Angst, daß sie einander immerfort bei den Händen hielten, ob das wohl ein Zeichen seelischer Erkrankung sei? Irgendwie psychisch überlagert? – Da mußte sich Dr. Feist aber sehr wundern. Das sei doch äußerst normal, daß die das täten, er selbst ertappe sich des öfteren dabei, daß er abends im Bett nach der Hand seiner Frau taste, ohne eine Spur von Angst.
    «Ist dies Ihre erste Stelle?»
    Und dann fuhr er davon in seinem grauen Volkswagen, in sein schönes Büro nach Kreuzthal, um seiner Sekretärin einen rückdatierten Bericht zu diktieren, daß in Klein-Wense alle Schulanfänger den Test bestanden haben. Zahlenraum beherrscht, körperliche und sprachliche Entwicklung normal und keine Kopffüßler gezeichnet. Wunderbar.
    Matthias blickte dem Wagen nach, und bei der Gelegenheit konnte er sehen, was aus seinem schönen Pult geworden war, es lag auf dem Holzplatz, kurz und klein geschlagen. Die Bauern hatten dabei wohl eine ziemliche Wut entwickelt. Der Stuhl stand daneben, noch unversehrt.

    Kaum hatten alle wieder Platz genommen, da fuhr schon wieder

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