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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wachhält. Aber wer unterzieht sich heute noch der Mühe?
    Er war wegen dieser Wappen zum Fachberater für Ostkunde eingesetzt worden, was ihm jährlich zwei schöne Dienstreisen nach Köln einbrachte, für die es Tagegelder gab, von denen er seiner Frau nichts erzählte.

    Der Schulrat nickte ihm zu. Ja, immer wachhalten die Sache, wie die Franzosen es getan hatten mit Elsaß-Lothringen.
    Dann wurde Fräulein Rosemiehl beiseite genommen, sie hatte im März bei der Visitation einige Klopse gebraten, das hing ihr noch an. Das Wort«Detektiv»hatte sie falsch an die Tafel geschrieben. Wie sollte man das nun aus den Hirnen der Kinder wieder herausbringen? Die waren doch auf ewig ruiniert? Sie hatte doch hoffentlich inzwischen die richtige Schreibweise abgeleitet und eingeschliffen?
    Heute wurde ihr zu verstehen gegeben, daß es eigentlich nicht geht, als Junglehrerin hier in Hosen zu erscheinen.
    Sie machte eine Blasenentzündung geltend, die man ihr wegen der roten Nase auch glaubte, aber das zog nicht so recht. Hier ging es mehr ums Prinzip. Schließlich gab es ja auch wollene Schlüpfer.«Aber chacun, wie ich immer sage, nach seinem Geschmack.»

    Der unglückliche Kollege, der die nächste Vorführstunde zu halten hatte, in acht Wochen, wisperte bereits mit Herrn van Dechterong, ob er nicht einen Tip hätte? Gedichtbehandlung schied ja jetzt aus? – Religion? keine schlechte Idee… Das Pfingstfest böte sich an?
    «Von Pfingsten lassen Sie die Finger», sagte van Dechterong, da gibt’s keine Belegstelle bei den Evangelisten,«nehmen Sie lieber irgendein Gleichnis.»

    «Na? haben Sie Ihr Geld nun bekommen?»Das war das einzige, was der Schulrat zu Matthias sagte, nachdem er ihn eine Weile geschnitten hatte. Und es war klar, daß er für allezeit als geldgierig abgestempelt war, bis hin zum Ruhestand.
    Stichnoth, zweiter Bildungsweg, Schlosser, Polizist und in Hildesheim studiert, statt in Göttingen, war ebenfalls geschnitten worden, wegen des anbiederischen Händedrucks, den er dem Schulrat geboten hatte, anstatt zu warten, bis er an der Reihe ist… Daß er das Wort«Gott»in der Eidesformel verweigert hatte, konnte nicht vergessen werden. Aber jetzt durfte er die Tasche zum Wagen tragen, die werde auch immer schwerer. Und als er dann noch Kreidestaub auf dem Jackenärmel des Schulrats entdeckte und um Erlaubnis bat, sie wegklopfen zu dürfen, war der Faux pas ausgelöscht für einige Zeit.

    Noch ehe sich der Pulk der Junglehrer aufgelöst hatte, die unternehmungslustigeren gingen ins Gasthaus, um einen zu heben, radelte Matthias davon. Hier war seines Bleibens nicht länger, zumal das Gasthaus, wie er sofort gesehen hatte, über keine Kegelbahn verfügte.
    Er bog in den Richtweg ein, der durch den Sassenholzer Wald entlang der Eische nach Klein-Wense führte, und lange noch sah man ihn mit seinem Staubmantel dahinwolken. Ein Eckschrank beim Anbauern Wessel mußte besichtigt werden. Angebot machen und dann warten, das war die Devise, nach der Matthias hier handelte. Irgendwann würde Wessel weich werden. Die Ecke in seinem Wohnzimmer lechzte danach. Oben drauf vielleicht einen irdenen Krug?

    «Wenn die wüßten», dachte er,«daß ich bei Ellinor von Kallroy Tee getrunken habe… »
    Morgen den ganzen Schultag«freies Gestalten»praktizieren! Das stand für ihn fest. Die«offene Behaustheit»hatte er für sein Teil bereits verwirklicht.

16

    P fingsten, das liebliche Fest, war gekommen. In der Klasse hing ein Blütenkranz unter der Decke. Und auf der Landstraße fuhren Campingwagen in südliche Richtung. Der Harz oder gar Bayern waren das Ziel. Für manche sogar Italien. Schließlich war man noch nie in Venedig gewesen… Oder Ravenna, das Grabmal des Theoderich? Der Deckstein sieben Tonnen schwer? Matthias sah vom Zaun aus zu, wie die Wagen dahinschwankten. Er zählte sogar mit, wie viele es wohl sein mochten, die es ins Abenteuer trieb, ließ es dann aber sein. Irgendwie abzulehnen war das, was sich hier ereignete. An Flucht erinnerte das. Damals waren die überladenen Pferdewagen in umgekehrter Richtung herbeigeschwankt, und auch der große Todesmarsch der blau-weiß Gestreiften war hier vorübergeschlurft.
    Matthias verspürte kein Fernweh. Wie hätte er die schönsten Tage des Jahres auch in der Ferne verbringen sollen? Nun, wo er Hausbesitzer war, Hausbesitzer mit Garten?

    Ein kalter Wind trieb ihn ins Haus. Er ging von einem Zimmer ins andere, seine Schritte hallten in den leeren Räumen, aber am

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