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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Gedicht? Didaktisch? Werde die Aussage dadurch nicht vorgeprägt?
    Und: Mörike – wann geboren, wann gestorben? Wo, bitteschön, sei das erwähnt worden? Ob er es riskieren könne, daß die Kinder mit dieser Frage allein gelassen werden?
    Und: Ob dieser Dichter nun für alle Zeiten im Deutschunterricht abgehakt sei? Oder komme da noch was?
    Auch war es sehr die Frage, ob er durch seinen mimisch-gestischen Vortrag nicht alles totgemacht habe? die Kinder majorisiert? – Beim Nachsprechen sei es aufgefallen, daß alle Kinder wie kleine Frohrieps gesprochen hätten…
    Und: Anfang Mai noch ein Frühlingsgedicht? Ob das angängig sei?

    Als schwerwiegender Fehler wurde ihm angekreidet: Er habe die Kinder vor dem Abschreiben des Gedichts nicht zu korrekter Schreibhaltung ermahnt! -Da der Kollege, der dies vorbrachte, jedoch eine knallrote Weste trug, erledigte sich der Vorwurf von selbst. Durch diese Weste hatte er sich ins Abseits gestellt. Außerdem war es noch gut in Erinnerung, daß er in seiner Vorführstunde – Einführung in die Sexualkunde – verschiedene Penisformen mit Blaupapier hatte abpausen lassen.

    Schließlich landete die Diskussion bei der Schärpe des Klassensprechers. Ob das reihum gehe, oder ob das Kind das ganze Jahr über mit dem Ding herumlaufe? Womöglich noch mit’m Orden dran?
    Der Schulrat erinnerte sich an seine Frankreichzeit, an die Bürgermeister dort, die als Zeichen ihrer Würde ebenfalls eine Schärpe trugen, bei Amtshandlungen freilich nur, und dem Rektor fiel der Polenfeldzug ein, bei dem er mal von einem sogenannten«Kettenhund»gestoppt worden war, den Beiwagen voll Schnaps? Van Dechterong dachte an ganz was anderes, an etwas, das er vor sich selbst nicht recht wahrhaben wollte, aber was doch da war, was sich beim Anblick des kleinen frechen Pferdeschwanzes wieder einmal meldete…

    Er beteiligte sich kaum an der Debatte, die Sache war gelaufen… in der Endphase der Stunde, als nichts mehr passieren konnte, hatte er damit begonnen, seine Pension auszurechnen – die Jahre der Militärzeit zählten mit, auch die Gefangenschaft. Er beschränkte sich auf ein gelegentliches:«Meinen Sie?»Und als es dann doch zu heftig wurde, fischte er den Unterrichtsentwurf, an dem er ja nicht unwesentlich beteiligt war, aus seiner Aktentasche heraus. Und nun sprang er dem doch sehr bedrängten Frohriep zur Seite. Kritisieren wär’ gut, sagte er, aber kritikastern, das lehne er ab. Kritik müsse etwas Aufbauendes haben. Eine so schöne Stunde, wie die soeben gesehene, bekomme man selten serviert… die habe ein gewissenhaftes Analüsüren verdient. Ein großer Mann habe mal gesagt:«Sprache ist das Haus des Seins…», er wisse leider im Augenblick nicht mehr, welcher große Mann das gewesen sei, aber das sollten sie sich merken…«Sprache ist das Haus des Seins…»

    Er hatte seine Examensstunde vor fünfunddreißig Jahren mit dem Thema:«Die sinnreiche Rückgabe von Diktatheften»bestritten, und da war ihm auch einer der Herren von der Prüfungskommission beigesprungen, der hatte gesagt, daß es eine so schöne Stunde selten zu sehen gäbe.
    Die Frage war, ob er heute noch einmal nach seinen Spargeln sehen sollte.

    Der Schulrat nahm die Gelegenheit wahr und blätterte die vor ihm aufgebauten Diktathefte der Schüler durch, das brauchte er für seinen Bericht. Daß auf dem Schrank zwei Kartons quer übereinander lagen, wurde moniert, da mal nachhaken. Kartons auf einem Schrank?, das ging irgendwie nicht.
    Und: Was für ein Anschluß an diese Stunde war vorgesehen? Wie sollte es weitergehen? Ein entsprechender Hinweis fehlte in der Vorbereitung. Waren Wörter mit V in Aussicht genommen,«Veilchen»,«Vergißmeinnicht»,«Vase»,«Vers»… oder sollte die korrekte Verwendung des Apostrophs behandelt werden? Wie um alles in der Welt sollte es weitergehen? Herrgott noch mal?
    Ein Junge hatte während der Stunde den Klassenraum geräuschlos verlassen, das war positiv zu vermerken, nicht dieses derbe: Darf ich mal raus? Steht auf, geht still hinaus und kehrt ebenso still zurück. Hier zeichnete sich eine neue Generation von Menschenkindern ab, dies war Pädagogik in ihrer idealsten Form.
    Als alles ausgestanden war, versammelte sich die Gesellschaft noch ein wenig in der Halle. Unter dem Wappenfries ostpreußischer Landkreise, der die Pausenhalle zierte, standen sie und lauschten dem Rektor, der die Wappen erklärte. Eigentlich ja selbstverständlich, daß man das Gedenken an den Osten

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