Heile Welt
durch persönlichsten Vortrag in glücklichste pädagogische Bereiche vor, er mimte irgendwie den Menschenfreund, also den guten Lehrer.
«Veilchen träumen schon», lispelte er,
«wollen balde kommen. -»
Und bei dem Wort«kommen»stieg er eine Quarte fragend in die Höhe.
Dann machte er eine kleine Pause, legte die Hand hinters Ohr und ließ die Augen rollen. Und es hauchte kaum hörbar aus ihm heraus:
«Horch!
von fern ein leiser Harfenton…»
Und endlich donnerte er es heraus:
«Frühling, ja, du bist’s!
Dich hab ich vernommen!»
Diese beiden Schlußzeilen trug Frohriep, sich plötzlich aufreckend und beide Arme plus Zeigestock ausbreitend, wahrhaft mit Donnerstimme vor, und der Eindruck, den das machte, war erheblich, besonders bei den Junglehrern, die vielleicht noch nie etwas von Mörike gehört hatten.
Dies war das Zentrum der Stunde, nun mochte draußen vorm Fenster der Bagger seine Dieselwolken ausblasen, Fahrschüler über den Flur trappeln, der Schulrat seine Mappe mit all den vielen Zetteln vom Schoß rutschen lassen – nun konnte nichts mehr verfrieren. Dreißig Minuten rum.
Der Rest der Stunde rieselte denn auch ziemlich dahin. Was mit«Harfenton»gemeint sei, fragte er.
«Sprich im ganzen Satz!»
Und warum der Dichter wohl das Wort«bald»in«balde»umgeändert habe, eigentlich ja ziemlich gewagt…
Die süßen, wohlbekannten Düfte wurden nur eben gestreift, weil sich Unruhe bemerkbar machte bei diesen Worten, Unruhe, die der Stimmung abträglich war.
Die Frage, ob sich dieses Gedicht auch in ein Wintergedicht übersetzen ließe -«Winter läßt sein graues Band wieder pfeifen durch die Lüfte… »-, wurde nur eben gestreift, das wurde sofort fallengelassen, hier hob nämlich van Dechterong die Hand: um Gottes willen! An sich nicht dumm, aber sehr, sehr gewagt!
Was sie meinten, ob man das Gedicht wohl in verchiedene Abteilungen einteilen könne?, in Szenen, fragte Frohriep sodann, gerade rechtzeitig, um den Unterricht, der ein wenig ins Stocken geraten war, wieder flottzukriegen. Ja, da gab es einen Fingerwald! Ganz ohne schnippen und ohne«ich! ich! ich!», und Frohriep malte die Akteinteilung mit Spannungsbogen an die Außentafel. Vierzig Minuten rum.
Sodann durften einzelne Schüler das Gedicht laut vorlesen – wobei die Mädchen eigene Wege gingen, die Jungen hingegen ihren Lehrer kopierten, bis hin zum unmäßigen Herausschreien der beiden Schlußzeilen.
Das Jahr 1828 wurde an der Geschichtsleiste aufgezeigt – aha, vierzehn Jahre nach Napoleon… Dann wurde das Gedicht in spezielle Hefte geschrieben, wobei Frohriep, wie es gefordert war, von Kind zu Kind ging und ihm über die Schulter guckte. Hausaufgabe zum nächstenmal: alles sauber abschreiben und mal sehen, ob es dann schon einer auswendig kann…
«Alles einpacken und still nach Hause gehen…»
Halt! Eben noch Lied und Gebet, und dann still nach Hause gehen. Drei Minuten überzogen…
Gott sei Dank, die Kuh war vom Eis, alles erhob und reckte sich. Nun kam der interessantere Teil des Vormittags: das sogenannte«Schlachtefest». Die Fenster wurden geöffnet, ein jeder machte es sich bequem, Schlips lockern, Jacke aufknöpfen – vom Beinehochlegen war man nicht weit entfernt.
Wenn die jungen Lehrer vor der Stunde ihren Kollegen auch aufmunternd angeguckt hatten – was meinst du, was uns schon alles passiert ist… -, jetzt sahen sie zur Seite.
Einmütiges Schweigen. Es war offensichtlich, an dieser Darbietung gab es nicht viel zu bekritteln, aber, wie das so ist, gerade dieser Umstand rief kritische Geister wach. Wenn die Sache danebengegangen wäre, hätte etwas Aufrichtendes gesagt werden müssen. Aber Lob? Wen interessierte Lob? Lob war schal und brachte nichts ein.
Also: Stuhl auf Tisch und Kind oben drauf? Was er sich dabei gedacht hat? Ob das geht? In Ostereistedt sei mal ein Kind bei so einer Gelegenheit runtergefallen, beide Beine gebrochen und dann schief wieder zusammengewachsen… und: eine brennende Kerze? ob er mal daran gedacht hat? Wie leicht kann da das Haupthaar eines Kindes in Brand geraten? Wie in der nahen Blechschneiderei Jakobsen der Frau, die einer Maschine zu nahe gekommen sei und absolut skalpiert? Oder was ist, wenn sich am Nachmittag ein Junge, durch diese Schulstunde angeregt, mit einer Kerze auf den Heuboden schleicht? Wie oft sind nach solchen Gedichten schon ganze Dörfer abgebrannt?
Und: Ob es angängig ist, Farbkreide in einem Gedicht didaktisch einzusetzen? In einem
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