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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Matthias kaufte einen Maiglöckchenstrauß, kämmte sich das Haar aus der Stirn und steuerte die Kantstraße an. An so manchem Abend war er hier entlanggeschlendert, um sieben Uhr hin und streng um zehn Uhr dreißig wieder weg.
    «Du mußt immer dran denken, Kind, daß ein Dorfschulmeister nicht viel Geld verdient!»hatte ihre Mutter gesagt, und Lilli hatte öfter als nötig zu ihm vom Studium gesprochen, Jura, daß das gar nicht so einfach ist, und man muß sich jedes Wort genau überlegen. Später kann man dann in die Industrie gehen und viel Geld verdienen…
    Und nun stand er vor dem Haus, und eine wahnsinnige Überraschungsfreude durchfuhr ihn.«Vielleicht sollten wir es doch noch einmal miteinander versuchen», hatte sie gesagt, auf dem Bahnhof, bei Bockwurst und Kartoffelsalat, wofür er ihr das Geld noch schuldete, und das war schließlich ein Zeichen gewesen, jenseits von Klausuren und Referendariat.
    Und nun stand er da, und gleich würde er in der von einer Palme verdunkelten Wohnstube sitzen, mit den Ledersesseln und der Böcklinschen Toteninsel an der Wand. Die Standuhr hatte jede Stunde die Westminstermelodie von sich gegeben, das würde sie also heute wieder tun. Und vielleicht wäre die Mutter ja jetzt etwas freundlicher gestimmt und nicht so inquisitorisch und spitz.

    Bevor er noch den Klingelknopf drückte, ein Messingknopf in einer Messingschale, sah er es schon: Ach, das Auto war nicht da, das Hoftor stand offen. Lilli war ausgeflogen mit ihrer Führerscheinmutter, ins Rheinland vermutlich, zu ihrer Kusine, mit der sie 1945 das Bett geteilt hatte. Sie würde sich dort zu Hasso niederkauern, zum Hühnerhundmischling, und fotografiert werden, und man würde ins Album schreiben: Lilli mit Hasso, Pfingsten 1961.

    Obwohl er doch wußte, daß hier nichts zu machen war, klingelte Matthias trotzdem, aber es rührte sich eben nichts, nebenan wurde die Türgardine bewegt, das war aber auch alles, und Matthias ging traurig in die Stadt zurück.

    Im Café Wenzel aß er ein Baiser mit Schlagsahne. So etwas war in Klein-Wense nicht zu haben, ein Café, in dem sich Doktoranden mit ihren Mädchen treffen. Nicht einmal in Kreuzthal gab es das: ein Caféhaus schon, aber keine Doktoranden. Alle Leute, die hier saßen, guckte er an, ob er sie kennt und ob sie ihn vielleicht kennen, vergeblich – es war eine andere Zeit eingezogen, seit er weggegangen war, hatte sich alles gewandelt. In einem der goldgerahmten Wandspiegel konnte er sich ungestört betrachten: eigentlich gar nicht so unflott…

    Am Sonntag ging Matthias zur Kirche. Der jubelnde Heilskosmos des Altars war über und über vergoldet – in der düsteren Halle war nichts davon zu erkennen.
    Schmückt das Fest mit Maien laßt uns Blumen streuen, zündet Opfer an…
    Als er da so saß in der kalten Bank und die sonore Predigt eines Theologieprofessors über sich ergehen ließ, der, wie zu hören war, bereits in Portland an einem Kongreß teilgenommen hatte, wozu auch seine Frau eingeladen worden war…, dachte er an Lilli mit ihrem Sopran, wie sie sich beim Singen immer so übertrieben gewiegt hatte und den Mund aufgerissen, mal nach links und mal nach rechts, und die Stirn gekraust zu schmerzlichstem Ausdruck und -«das mußt du doch verstehen»- mit dem Chor zur Singefreizeit nach Rinteln gefahren. Immer dann war sie zur Singefreizeit gefahren, wenn er sich was Besonderes ausgedacht hatte, eine Radtour an die Weser oder mal ins Theater, von Kino ganz zu schweigen. Jetzt sang der Chor von der düsteren Empore aus in die düstere Kirche hinunter.
    Der Heilige Geist vom Himmel kam mit Brausen das ganz Haus einnahm, darin die Jünger saßen:
    Gott wollt’ sie nicht verlassen.
    Auf dem Marktplatz hatten sich die alten Herren inzwischen zum Stiftungsfest versammelt, die warteten auf ihr Bier, das die Kellner aus dem Ratskeller auf Tabletts herbeitrugen. Die alten Damen warteten auf Kaffee, und das junge Blut eilte von Tisch zu Tisch und begrüßte anderes junges Blut, junge Leute mit bunter Mütze, ganz fesch, so mancher steuerte schon auf seine Promotion zu, und andere hatten einen frischen Schmiß auf der Backe, genau an der richtigen Stelle. Gespaltene Lippen, so etwas gab es nicht mehr, heutzutage war man geschickt bandagiert, da gab es dann später beim Rasieren keine Schwierigkeiten.
    Dort hinten links, war das nicht Professor Avenarius mit seiner jungen Frau, jener Kunsthistoriker, von dem gerade ein so bedeutendes Buch über byzantinische Mosaiken

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