Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Die linden Lüfte sind erwacht… Nun muß sich alles, alles wenden – politisch ausdeutbar? Die Wiedervereinigung? Die Selbstzerfleischung und Nestbeschmutzung der Deutschen untereinander? – Frankfurter Paulskirche, damals, ja leider schiefgegangen, und dann 70/71 die Gewaltsamkeiten auf dem Rücken der Franzosen, die zu hassen es ja aber auch genügend Grund gegeben hatte…
    Van Dechterong hingegen tastete in seinem Hosensack nach dem Taschentuch und berührte seine Lustwurzel, der dachte an ganz was anderes. Erstaunlich – mochte er denken -, erstaunlich ist es, daß mir selbst jetzt noch, kurz vor der Pensionierung, die Manneskraft erhalten geblieben ist. Vor ihm saß junge weibliche Schönheit füllenhaft mit frechem Pferdeschwanz. Da war es ja nur ganz natürlich, daß er sich ablenken ließ. Bis in das siebente Lebensjahrzehnt ward ihm Erregbarkeit geschenkt, und das war nicht zu erwarten gewesen. Er hatte immer gedacht, mit fünfzig wäre Feierabend in dieser Hinsicht. Siebzehn Minuten rum.

    Matthias fragte sich, wann ihn wohl das Los treffen würde? O Gott, sich vor allen Leuten zu produzieren, davor hatte er schon jetzt einen Bammel.
    Frühling, ja du bist’s!
Dich hab ich vernommen!

    Ob irgend etwas unklar sei an den Dichterworten?, fragte Frohriep, sei möglicherweise etwas nicht zu lesen oder vom Sinn her nicht zu verstehen? An sich ja alles glasklar? Nein? Daß er die Schüler danach fragen müsse, ob sie alles verstanden haben, auch das hatte in«Schule heute»gestanden. Und dem war selbstverständlich Rechnung zu tragen.

    Dann machte er es sich am Fenster bequem, unter dem die Baugrubenarbeiter den Motor des Baggers wieder in Gang zu kriegen suchten, und begann flüsternd von Mörike zu erzählen, daß der im Frühling 1828 oft aus dem Fenster geguckt habe: Der Frühling müsse doch bald kommen!, habe er gedacht, tagaus, tagein. Ach, wie habe er ihn ersehnt! Nach grüner Farb’ mein Herz verlangt – damals seien die Menschen noch viel mehr auf den Frühling aus gewesen, auf das Ende des harten, kalten Winters, auf die Blumen, auf die Gräser, auf die Vögel! Auf den Lenz, wie man den Frühling auch nennen könnte… Nun will der Lenz uns grüßen, sie hätten das Lied ja eben so frisch von der Leber weg gesungen… Den ganzen Februar hatte der Dichter nun schon gewartet, immer wieder aus dem Fenster geguckt und geschnuppert. Aber der Frühling sei und sei nicht gekommen…
    Jeden Morgen sei er hinausgewandert vor das alte bullerige Stadttor und habe Ausschau gehalten: Frühling, wo bist du?, habe er bang gefragt, und dann sei er traurig wieder nach Hause zurückgekehrt und habe einen Kloben Holz nachgelegt in seinen Ofen: Der dumme, dumme Frühling! Warum ließ er denn so lange auf sich warten? Manchmal habe ihn auf seinen Spaziergängen der garstige Winter sogar noch verhöhnt, indem er ihm nasse Schneeflocken ins Gesicht warf! Oder den Hut dahintrullern lassen. Aber er habe nicht lockergelassen, mochte ihn der Wind verhöhnen und necken, mochte seine Hose mit Kot sich beschmutzen…

    Am 9. März des Jahres 1828 (Frohriep guckte zur Uhr, als er das sagte), einem lauen Tag, sei ihm die Brust einfach zu enge geworden, wie einem Küken im Ei sei ihm zumute gewesen, kurz vorm Ausschlüpfen. Unruhige Frühlingssehnsucht habe ihn wieder einmal vors Tor gelockt. Was scherte ihn die feuchte Straße! Der Straßenkot! Die Pfützen!
    Und da habe sein Auge die weißen und grauen Wolken mit einem ganz anderen Blick gesehen, sich jagend, hei! sich schiebend und drängend! Stürmisch habe der Wind sie vor sich hergejagt.
    «Mörike hätte am liebsten mitblasen mögen! »sagte Frohriep, und auf den Gesichtern der Zuhörer, Kindern wie Erwachsenen, spiegelte sich sein lebhafter Vortrag wider.
    «Kot?»schrieb der Schulrat in sein Heft. Zweiundzwanzig Minuten rum.

    Und da sei es auf einmal geschehen! Plötzlich habe Mörike laut aufgejauchzt, denn die Sonne sei durch den zerrissenen Schleier gedrungen, zwischen den zerteilten Wolken sei das Blau sichtbar geworden…
    Und in diesem Augenblick sei ihm eben das Gedicht eingefallen, das hier jetzt mit Schulkreide an der Tafel geschrieben stehe, und er deklamierte es für alle, im Ton fragender Gewißheit:
    «Frühling läßt sein blaues Band Wieder flattern durch die Lüfte… »
    Er deutete auf die einzelnen Wörter, der Reihe nach, in einer gewissen Entfernung, weil der«Lesefinger»in«Schule heute»bereits angeprangert worden war. Dann aber stieß er

Weitere Kostenlose Bücher