Heile Welt
Fenster, in seinem Stirb-und Werdestuhl, saß es sich ganz behaglich, den frisch erworbenen Eckschrank hatte er dabei im Blick. Eben noch in die Küche gehen und sich einen Kakao machen. Ein Schmalzbrot dazu, und dann in den Garten hinaussehen, der in voller Blüte steht, in den Obstbäumen freilich hängen noch die Meisenringe vom vorigen Jahr.
Bei Bauer Freede gegenüber hielten fremde Autos, ein sogenannter«Besäuk»hatte sich eingestellt, aus Frankreich, ein ehemaliger Kriegsgefangener, mit Frau und mit Kindern, die sich Ferkel auf den Arm legen ließen, um damit, vom Spitz umsprungen, fotografiert zu werden.«Pfingsten 1961 in Klein-Wense»würde hinten auf die Fotos geschrieben werden, natürlich auf französisch. Unglaublich, wie Carla in den letzten achtzehn Jahren gewachsen war! Damals noch ein Krabbelkind…
«Schade, daß Opa das nicht mehr miterlebt hat, wie hätte der sich gefreut… »
Wie der Bulle damals ausbrach und durchs Dorf raste, das erzählten sie sich, und wie sich bei Kriegsende einer der Franzosen ins Tor gestellt hatte und zu den Engländern gesagt: Good people! this are very good people! Der hatte damit das Ärgste verhindert. Und Charles, der lustige Charles, der unverwüstliche Kamerad, an den wurde jetzt auch gedacht: in den letzten Kriegstagen noch an Grippe gestorben!
Nebenan bei Fitschen war es damals nicht so gut abgegangen. Ortsbauernführer, und als der junge Pole aufgehängt werden sollte, den Zug durchs Dorf angeführt. Zwei Jahre Westereistedt hatte das gekostet. Die Fitschens ließen sich nicht sehen, obwohl auch sie wußten, daß hier ein alter Bekannter gekommen war, der Opa am Fenster hatte das längst ins Haus hinunter gemeldet.
Man besichtigte die neue Scheune, den Kartoffelvorkeimer modernster Machart, und auch der neue Trecker wurde vorgeführt mit seinen zehn Gängen! So was kannte man in Frankreich wohl gar nicht?
Bevor man hineinging zu Schweinebraten und Rotkohl, zeigte man den Gästen auch den Lehrer, wie der da mutterseelenallein in der Küche hantiert. Immer noch nicht verheiratet, obwohl schon dreißig Jahre alt. Muß sich sein Frühstück selber machen, der arme Kerl!
Matthias nahm das Fahrrad, um beim Kaufmann für die Festtage noch etwas einzukaufen. Gerade als er um die Ecke bog, kam ein Brautzug heranmarschiert, angeführt von einem Saxophon und einer Trommel. Die Braut war schwanger, und der Bräutigam hatte ein Gipsbein, er war beim Heustaken vom Dachboden auf die Diele gerutscht, kurz vor der Hochzeit, und hatte dabei das Bein gebrochen. Pastor Ortlepp schritt hinter dem Saxophon einher, mit bösem Gesicht, dem war es peinlich, daß Matthias ihn sah, Saxophon und Trommel und die Braut schwanger? Mußte hier über die Dorf straße latschen in vollem Ornat, und der junge Schnösel steht an der Straße und grinst? Na ja, Volksschullehrer… Er selbst hatte schließlich eine Tochter in Amerika und zwei Söhne auf der Universität, die es einmal weiter bringen würden als dieser kleine Schulmeister hier auf seinem Fahrrad.
Pfingsten 1961 in Klein-Wense. Matthias sah die Autos, die die Landstraße hinunterfuhren. Sogar eine Kutsche kam vorüber, mit Pfingstgrün geschmückt, eine lustige Gesellschaft darin: Den Männern flogen die Hüte weg, und den Frauen bauschte es die Röcke.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen…
Da faßte Matthias rasch einen Entschluß. Warum hier versauern, wieso nicht ebenfalls ausfliegen, wie alle Kollegen, die sich schon am Tag zuvor auf den Weg gemacht hatten, um an der Nordsee zu zelten oder auf der Rhön Flugzeugmodelle steigen zu lassen, von der Frau, die im Grase lagert, bewundert.
Warum nicht an den Ort zurückkehren, in dem man sich vorbereitet hatte auf das Landleben? Durchaus studiert mit heißem Bemühen? In die Mensa gehen, ob da Bekannte aufzutreiben waren, und ins Leinetal mit Lilli?
An sich hatte man ja Residenzpflicht als Beamter, aber das galt wohl nur für die großen Ferien. Und Beamter war er ja noch nicht, er war ja im Stande der Hoffnung, bis zur lebenslänglichen Anstellung hatte es noch gute Weile, dazwischen lagen noch Visitationen jeder Art, und dann die zweite Prüfung.
Also: abhauen, und zwar sofort. Matthias fuhr, vom Rückenwind leicht angeschoben, durch den Glumm nach Kreuzthal und stieg dort in den Schienenbus: Acht Wochen war es her, daß er nach Norden aufgebrochen war, nun noch einmal zurückkehren an die Ursprünge und den Abstand auskosten, zwischen kümmerlichem Studentendasein
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