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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wurde niemals eingeladen, und seine Frau kaufte im Nachbarort ein.
    Spukgeschichten. Und natürlich kam auch der Mord zur Sprache, vor vierzig Jahren, die Sache mit dem Rheinlandmädchen. Der Bauer, der damit zu tun gehabt hatte, lebte immer noch. Von der Sache wußte jeder, aber man hatte ihn nicht fassen können. Daß neulich mitten in der Nacht einer gelacht hat, markerschütternd, wurde erwähnt, das sei«grugelig»gewesen. Freitags keine Wäsche aufhängen! Und so weiter.
    «Iss noch nich so wiet!»rief Anita ins Zimmer.
    Gegen zehn Uhr gab es endlich was zu essen, Matthias dachte schon, er hätte sich geirrt, und«acht Uhr»bedeute womöglich: nach dem Essen… Schlachterwurst wurde aufgetischt, unter der voll aufgedrehten Deckenlampe, Aufschnitt, kalter Braten; eigene Wurst anzubieten, das hätte sich nicht gehört – die Gäste mochten insgeheim zählen, wie viele Sorten hier aufgetischt wurden, was man also selbst das nächste Mal würde drangeben müssen. Käse nicht, Käse wurde nicht gegessen in Klein-Wense.«Braunschweiger oder watt?»

    Matthias wurde gefragt, was der Vater war, aber das wußten sie schon. Sonst ließen sie ihn in Ruhe. Jaenicke ohne h, aber mit ck.«Studiert oder watt?»
    Matthias versuchte Platt zu sprechen, und die Bauern Hochdeutsch.«Ick heww», sagte er statt«ich habe», und«dunn»statt«dann».

    Schmauch wär’ ein guter Lehrer gewesen, herzensgut, und seine Frau hatte jedes Jahr ein Berliner Kind genommen; obwohl das alles Bettnässer waren, hatte sie jedes Jahr wieder eins genommen, damit die mal rauskommen aus der Steinwüste.
    Die Ära Schmauch sei im Grunde genommen ein Segen für Klein-Wense gewesen. Im Kopfrechnen ein As.«Rechnen ist das A und O!»- Nur die Sache mit der Hexenbrücke. Er habe sich in der Dämmerung immer mit einer jungen Frau aus Eistedt an der Hexenbrücke getroffen -«Wo heit’ se noch?»-, im Gebüsch dort. Hatten gedacht, keiner sieht sie, aber das ganze Dorf hatte es gewußt.

    Was die Bildung der Kinder anging, war man der Ansicht: Kinder dürfen nicht zuviel lernen -«De wat us to klog»-, sonst übernehmen sie den Hof nicht, wenn’s soweit ist.
    Dumme Bauern – kluge Bauern wurden bezeichnet, mit Namen und voller Adresse. Und faule Bauern. Von einem Bauern wurde gesagt, dem tue es wohl unter der Achsel weh (der wolle nicht arbeiten). Daß ein Bauer in Westereistedt aus Geiz Altöl in seinen Mähdrescher gefüllt habe, wurde erörtert und belacht: alles in Dutt!
    «Iss noch nich so wiet!»
    Zu fleißig zu sein wär’ auch nicht gut, der Ausbauer in Wense-Ausbau zum Beispiel, also nee, der arbeite ja nur im Laufschritt und bis Mitternacht! Am besten sei: Immer eben weg und:«Man muß sich jeden Tag was vornehmen. Das andere tut man sowieso. »Das war die vorherrschende Meinung.
    Heuernte, Kornernte… Schwerste Arbeit machten die Runkelrüben. Schwerste Ernte. Einzeln mit der Hand hochstaken. Dazu Regen in die Ärmel. Rinnsale bis auf’n Bauch. Laufende Nase. Kalte Füße.
    Die Runde wetteiferte, den Lehrer irgendwie zu belehren. Daß mal ein Dachs im Wald einen Weg unterwühlt hat, erzählten sie; und die Reiherkolonie wurde beschrieben, in der jetzt allerdings die Krähen horsteten.

    Großes Thema: Bauer Freede, der nie auf«Besäuk»komme, und seine Tochter auch nicht, der wär’n Mittelding zwischen dumm und klug, der harke die Maulwurfshaufen in der Weide nicht breit, weil auf der Krümmung der Maulwurfshaufen ja auch Gras wächst, und das wär’ denn ja mehr Oberfläche…
    «Wenn der seine Tochter nicht hätte!»Ein tadelloses Mädchen. Beanstandet wurde lediglich, daß sie die nasse Wäsche im Garten nicht der Größe nach aufhängt.
    Freede, auch so’n Kapitel… Als die Engländer kamen, immer rübergezeigt, als ob da was zu holen wär’… Und der Vater dann auch tatsächlich nach Westereistedt gekommen, zwei Jahre!

    Flüchtlinge wurden aufgezählt, gute und schlechte, komische Leute dabei, der baltische Baron mit einem Papagei hier angekommen – der Vogel habe das Schweinefüttern nachahmen können und den Todesschrei der Schweine beim Schlachten.
    «Dat gipps ja woll nich!»
    Im Winter hatte er seine Schuhe bei Taschenlampenbeleuchtung geputzt, so sparsam war der. Aber -’n Papagei, das müsse man ihm lassen.

    Flüchtlinge: Manch einer war mit Pferd und Wagen gekommen, mancher gleich weitergezogen. In Wäschehäusern hatten sie gehaust – besondere Lieder bei den Beerdigungen gesungen und geheult und geschrien am

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