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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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neuen Zinken für seinen Holzrechen zu schnitzen.
    Weiße Farbe war noch vorhanden, davon stand im Keller Faß neben Faß, damit hätte man das ganze Dorf weiß anstreichen können, aber erst mußte sich Matthias hinsetzen und sich eine neue Version der Dorfgeschichten anhören, die Version von Heiner Claasen.
    Ausführlich wurde von Klapproth, dem Konkurrenten, gesprochen, also davon, daß der nicht rechnen kann, aber auch davon, daß der ganz schön hart sei. Beispiele für die Geschäftshärte wurden nicht abgegeben, aber die leeren Schaufenster von Heiner Claasens Laden hatten wohl damit zu tun.

    Die Sache mit dem jungen Polen, den die Nazis«aufgehangen»hatten wegen Rassenschande, den Strick falsch umgelegt, also nicht das Genick gebrochen beim Wegstoßen des Hockers, sondern den Mann stranguliert, was eine Viertelstunde dauerte. Obwohl er es selbst nicht gesehen, machte er es vor, legte den Kopf schief, streckte die Zunge raus und gab Röchellaute von sich. Er sei ja damals bei der Organisation Todt in Frankreich gewesen. Der habe da rumgezappelt, der arme Junge, bloß wegen dem bißchen Stiftsetzen. Er habe aber wohl nichts groß gemerkt davon, denn die Schlinge unterbreche beim Strangulieren die Luftzufuhr zum Gehirn, und die Folge sei Bewußtlosigkeit. Aber das arme Mädchen! Das sei dann nach Ravensbrück gekommen, wegen Blutschande, und nicht zurückgekehrt.

    Wenn man es so bedenke, er habe schon so manches«beläwt», sagte er und schaute eine Weile in sich hinein, in Polen zunächst und dann in Frankreich.
    «Beläwt», sagte er, und das heißt auf hochdeutsch:«belebt»und bedeutet«erlebt». Etwas beleben, während man sich daran erinnert – den Ausdruck merkte sich Matthias.
    Mit dem Viehhändler sei’s losgegangen, das Malheuer, 1938, Viehhändler Glücksmann, dem er sein Vieh abgekauft habe, diese übergroßen Rinder, überall liefen ja noch Abkömmlinge davon herum, abends war er an die Tür gekommen und hatte geflüstert, hatte es sehr eilig, und alles in bar.
    «Der ist dann ja nach Schweden gegangen, hätt’ auch mal schreiben können.»

    Dann kam das Gespräch auf einzelne Bauern. Fitschen, den kenne er doch? Na, er wolle sich da nicht weiter zu äußern, Vater Ortsbauernführer. Der wär’ ein großer Nazi gewesen, und im Dorf in Uniform rumgelaufen… aber vielleicht ganz gut so, daß der so gegen die Juden gehetzt habe, sonst hätte Glücksmann den Absprung gar nicht geschafft, die Kurve nicht gekriegt.
    «Der hat dem das direkt noch zu danken…»
    Glücksmann sei übrigens kein typischer Jude gewesen, also kein Watschelgang und keine krumme Nase, ein flotter Typ, mit schwarzem Kraushaar und Menni-Bärtchen auf der Oberlippe, und den Hut immer auf einem Ohr. Der habe gut mit den Bauern gekonnt, vor allem mit den Bäuerinnen!
    Neulich wären drei Schüler dagewesen, aus Kreuzthal, wegen einer Gedenkecke für die Opfer des Naziregimes im Hermann-Sulzberg-Gymnasium. Aber Glücksmann lebe ja noch, jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach, für den wäre eine Gedenkecke wohl nicht angebracht.
    Um die Zeit zu nutzen, ließ Matthias sich von Claasen noch die Haare schneiden, das ging ebenfalls in der Küche vor sich, wurde mit einer Handmaschine vorgenommen und kostete eine Mark. Danach zog Matthias mit der Farbe ab, bekam auch noch eine Quaste und eine Leiter geliehen, und dann strich er seine beiden Dachkammern weiß an. Das Uhrwerk im Wolkenzimmer schwarz.

    Nach getaner Arbeit legte er sich aufs Bett. Er fragte sich, wo er denn nun für den Sperling ein Einschlupfloch anlegen sollte, an welcher Stelle?
    Er hatte sich ein kleines Kofferradio gekauft, eine«Transita»von Nordmende, blau, mit UKW. Und: Das hatte er gern: auf dem Bett liegen, Zwieback mit Butter essen und Musik hören mit herausgezogener Antenne. Vielleicht zwanzig Sender konnte er empfangen, und jeder dieser Sender sendete von morgens bis abends. Bin ich damit gemeint? dachte er.
    Einmal nahm er das Radio mit in das Wolkenzimmer. Aber keine Musik hielt stand vor dem Himmelsschaupiel.

    Hatte er genug gehört, schaltete er ab, und dann nahm er sich die Posaune vor, auf der er nun schon ein paar klare, saubere Töne blasen konnte.«Der Mond ist aufgegangen», das kriegte er einigermaßen hin. Morgens hatte er kein Bedürfnis, auf dem Instrument zu blasen, aber abends, wenn es dunkel wurde.

    Vorm Schlafengehen machte er gern seinen Rundgang durch das Dorf – die Eule, die in der Eiche von Bauer Freede wohnte, strich ab,

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