Heile Welt
Vogeldreck obendrauf. Na ja, hatte man es nicht gesagt? War der neue Lehrer nicht aus dem Osten gekommen? – Die Männer warfen alles aus dem Fenster, so daß sämtliche Nachbargärten schließlich mit Papier übersät waren. Und dann wurde mit Brettern ein Fußboden über die Lehmfüllung gelegt, ein hübsches kleines Separee entstand auf diese Weise. Die Giebeluhr konnte nicht in Gang gesetzt werden, die blieb still und stumm. Vielleicht ganz gut, das Ticken hätte wohl doch gestört. So war denn das klobige Uhrwerk der einzige Wandschmuck in diesem Raum.
Matthias hatte nun ein weiteres Zimmer für sich. Er nannte es sein«Wolkenzimmer»: Von hier aus beobachtete er die Sonnenuntergänge, das dauerte oft eine ganze Stunde, Wolken mit glühend roten Rändern, Formen und Farben ineinander übergehend, und darunter als Saum der von den schwarzen Baumwipfeln des Waldes angeknabberte Horizont. Das hatte er in seinem Leben zwar, wie jeder Mensch, schon oft gesehen, aber noch nie beobachtet. Hier wurde es ihm zum unentbehrlichen Spektakel. Und wenn er vor der Wolkensymphonie saß, blickte er sich um, ob da nicht noch einer ist, zu dem er sagen kann: Sieh mal den Himmel des Jüngsten Gerichts!
Und weil keiner da war, dem er sich mitteilen konnte, versuchte er, die Himmelserscheinung zu beschreiben, erster Akt, zweiter Akt, dritter Akt, in sein Notizbuch notierte er die Himmelsveränderungen, und er fragte sich nicht: Warum tu ich das?
Vor diesem Fenster spielte sich jeden Abend der Weltuntergang ab. Der Sonnenaufgang hingegen wurde ihm von der Straßenseite her beschert, der war nicht so interessant, das war ein ganz anderes Licht, das hatte etwas mit dem Geschepper der Milchkannen zu tun, morgens um sechs. Hundebellen und Hähnekrähen. Immer nahm er sich vor, einmal einen Morgen von Anfang an mitzuerleben, sich an die Eische zu setzen und von dort aus über die Wiesen schauen – aber daraus wurde nichts. Die Bauern hätten gedacht: Der Kerl hat die ganze Nacht durchgefeiert. Außerdem hatte er keinen Wecker.
Als der Pastor von den Möbeln hörte, daß der neue Lehrer von Klein-Wense sie gekauft hätte für 150 Mark!, machte er nur wegwerfende Gesten. Er kannte die Stube wohl, er hatte so manches Mal auf einem der dunkelgrünen Sesselchen gesessen und sich von der alten Frau was vorheulen lassen. Erst Wochen später dämmerte es ihm, daß er da wohl doch einen Fehler gemacht hatte, sich diese Möbel nicht zu sichern, und er ergrimmte gegen Matthias.
20
S chon am nächsten Vormittag machte sich Anita daran, den Garten in Ordnung zu bringen. Es wurde umgegraben, dann wurden Bohnen gelegt, Erbsen, Zwiebeln gesteckt. Wenn Matthias ans Fenster trat, in der Schönschreibstunde – rauf – runter -rauf, i-Tüddel drauf! – und hinausblickte, stand Anita über den Beeten, mal von vorn zu sehen, auch von der Seite, mit Kopftuch und oft auch sehr von hinten und grub und hackte und harkte.
Ab und zu hielt sie inne, und dann erschien ihr Kopf über den weißgestrichenen Fensterscheiben, was Matthias da macht, wollte sie gern wissen. Hefte vorzeigen lassen zum Beispiel oder mit den Kleinen rumalbern.
Wenn ihr Gesicht auftauchte, schüttelte Matthias leicht den Kopf, daß das nicht geht, daß sie hier dauernd reinguckt, und dann verzog sie sich. Sie wußte schließlich, was sich schickt.
Als Dank für ihre Arbeit ging Matthias dem Bauern zur Hand, wenn der Eingaben ans Versorgungsamt machen wollte, wegen seiner Kriegsverletzungen. Jegliche Schriftstücke setzte er ihm auf und schrieb sie auch fein leserlich ab. Der Bauer stand dann daneben, dick und schwer, und atmete zischend durch die verstopfte Nase. Aus dem Fenster sah Matthias dann auf den Hof des Bauern Freede, wo Carla Mist auf den Miststreuer lud.
Die Annäherung an die Familie gipfelte in einer Einladung. Sonnabend, acht Uhr, und Matthias band sich seinen guten Schlips um. Fitschen empfing ihn auf der Diele seines alten Niedersachsenhauses. Die Stallungen, eine Buchte neben der anderen, für Pferde und für das Rindvieh. Altersschwarze Ständer aus Eiche, an denen Namensschilder für besondere Kühe und Pferde angenagelt waren.
«Das Holz, das ist nun schon dreihundert Jahre alt, da ist kein Bock und kein Wurm nich drin… – Komisch, wenn eine Neonröhre kaputtgeht, gehn gleich alle kaputt.»
Hier hing auch für jeden Vorfahren eine handgeschnitzte Eichentafel. Bis ins 17. Jahrhundert zurück ging die Ahnenreihe, und das war eine herrschaftliche Sache,
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