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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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er sich nicht lange auf. Der Mann hatte die Rederitis, aus Hirschberg war er, und allerhand Ungerechtigkeiten waren ihm widerfahren. Klein begrüßte ihn eine Idee zu freundlich, er legte die Heimatkundehefte, die er gerade korrigierte, zur Seite und stellte sich ans Bücherregal, um Matthias einen Fotoband von Schlesien zu zeigen – er sammle nämlich Sagen und Fotos aus der alten Heimat, vielleicht würde er das eines Tages in Form einer Broschüre der Öffentlichkeit vorlegen, mit Federzeichnungen von Giacomo Perlucci, das Gesamtdeutsche Ministerium bezuschusse so was, er habe schon halbwegs eine Zusage. Bei«Schlesien»horchten die auf. Hier in Sassenholz wohne übrigens ein Schriftsteller namens Alexander Sowtschick, ein Schrank von einem Menschen, mit dem habe er gesprochen, und der hätte ihm Mut gemacht.« Ich hab’ auch klein angefangen», habe der gesagt.
    Hätte nicht viel gefehlt, daß der Kollege sich die Lesebrille aufsetzte, um aus seiner Sagensammlung was zum besten zu geben. Er konnte gestoppt werden durch diverse Hinweise auf eigene Heimat, mit denen Matthias gegenhielt.

    Das Gespräch litt darunter, daß der einzige Sohn des Schulmeisters, ein bleiches, dünnes, geistig behindertes Kind, ins Zimmer drängte. Es quäste herum, als ob es sich langweilt, und quetschte undeutlich Wörter hervor. Schließlich wand es sich auf dem Boden, wand sich und spielte an seinem Geschlechtsteil.
    Draußen der blühende Garten, und hier drinnen, in dieser niedrigen dunklen Stube, eine solche Niederlage der Natur!
    Matthias gelang es, sich für einige Minuten verständnisvoll zu zeigen und in bescheidenem Maße auch auf das arme Kind einzugehen, obwohl in seiner Ausbildung von solcher Art Menschenleben nicht die Rede gewesen war. Für Sekunden schien es so, als merke das Kind auf, aber dann fiel es doch wieder in seine eigene Welt zurück.
    Ein Glück, daß die Frau nicht zu Hause war, sie war in die Rhön zur Kur gefahren – schwach auf der Brust -, so konnte sich Matthias rasch davonmachen, und es schien so, als sei das dem Kollegen auch ganz recht, denn sonst hätte er als gastfreundlicher Schlesier selber Kaffee machen müssen, und von Kuchen war ohnehin keine Rede.
    Aber: Vielleicht eben noch schnell die Sammlung ansehen?
    Welche Sammlung?
    Das bäuerliche Arbeitsgerät?
    Das Kind wurde in einen Verschlag gesperrt, und dann gingen sie hinüber in den Keller der Schule. Hier hingen zweiundzwanzig Dreschflegel, säuberlich nebeneinander, und auf einem Tisch standen Holzschuhe für Pferde, daß sie im Moor nicht einsinken, zu Doppelpaaren nebeneinander.
    Hübsch waren die aufgereihten Mangelbretter und Plättknüppel, zum Teil mit Schnitzwerk verziert. Mit diesen Geräten war die nasse Wäsche ausgequetscht worden; die Knüppel hatten wohl außerdem noch dazu getaugt, wenn es nötig war für Ordnung zu sorgen, nachts Einbrecher zu verscheuchen oder Leute, die am Fenster horchen.

    Etwas seitab lagen auf einem Tisch kolorierte Scherenschnitte unter Glas, aus dem Offiziershaus, das kürzlich unverantwortlicherweise abgerissen worden war – mit dem Eigentümer würde man nie wieder ein Wort wechseln… -, in dem ein sonderbarer Adliger gewohnt hatte, aus dem Harz stammend, ein Rittmeister, dem Alkohol ergeben. Ein zwar einfaches Haus, aber gut in den Proportionen und innen mit Stuck versehen, das war nun für immer dahin. Neben dem Fronhus und der Kirche war das Offiziershaus eine Attraktion der ganzen Gegend gewesen, Dr. Müllermann war von Pontius zu Pilatus gelaufen, um den Abriß zu verhindern – alles vergeblich. Sogar an den Bundespräsidenten hatte er geschrieben! Das einzige Offiziershaus weit und breit, mit Stuck und Marmorkamin, war abgebrochen worden. Und nun stand da ein schmuckloses Einfamilienhaus mit Jägerzaun und Riffelglastür, dessen Dach im übrigen falsch konstruiert war: Es regnete rein.
    Aber Klein hatte aufgepaßt! Bevor noch die Spitzhacke an das Gebäude gelegt wurde, hatte er so manches gerettet: die Scherenschnitte zum Beispiel, die unbeachtet in einer Ecke lagen, und einen Satz Pferdeschellen zum Vierspännigfahren. In der letzten Nacht noch einmal hingegangen, mit einer Taschenlampe, und eine Schabracke unter allerhand Gemülle hervorgezogen, hübsch bestickt, aber leider arg von Motten zerfressen.
    Ober das Neueste wisse?, fragte Kollege Klein. – Dr. Müllermann läg in Scheidung!
    «Wahrscheinlich hat er’ne andere.»
    Daß sich die Menschen nicht vertragen können! So was sei

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