Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
deutschem Nummernschild hält vor der Eisdiele, und die junge Frau springt auf, denn das ist ihr Papa, der extra aus Kerpen gekommen ist, um die Verirrte abzuholen. Für heute ist mit dem Wanderzirkus nämlich erst einmal Schluss.
Mit ihrem selbstgebrauten Wohlfühlglauben liegt Gracia voll im Trend: Ein bisschen Christentum light, ein Hauch Mainstream-Buddhismus, ein paar modische Accessoires und eine Prise Aberglauben – immer mehr Menschen setzen auf den persönlichen Glaubenscocktail. Die Enge einer Kirchengemeinde mit strengen Regeln, pingeligem Vorstand und den neugierigen Nächsten, die man auch noch lieb haben soll, braucht heute niemand mehr, der sein Leben mit etwas Sinn würzen will. Warum sollte man sich die Gleichmacherei beim Glauben überhaupt noch antun, wenn es ansonsten kaum mehr etwas gibt, das sich nicht individualisieren lässt: Turnschuhe mit eigenem Muster, Autos, die sich bis unters Dach mit Sonderwünschen vollstopfen lassen, oder selbst geschusterte Computer aus dem Onlineshop. Wer will da noch Religion von der Stange?
»Wenn Dreiecke einen Gott hätten, würden sie ihn mit drei Ecken ausstatten.«
Charles-Louis Baron de Montesquieu
Unsere privaten Glaubenswelten sind deshalb immer häufiger ein Potpourri aus der Produktpalette der spirituellen Vielfalt. Wir lieben Religion-to-go, das gewisse Extra, das uns weder bei der Arbeit noch in der Freizeit einschränkt – möglichst unkompliziert und lifestylekompatibel, bunt und abwechslungsreich wie die Bausteine im Urlaubskatalog und mindestens so vielfältig wie unsere Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse. »Patchworkreligion« nennen Theologen und Religionswissenschaftler den himmlischen Basteltrieb passenderweise. Wir kombinieren Elemente aller Weltreligionen munter mit esoterischem Wunderglauben – je nachdem, wie es uns eben am besten in den Kram passt. Schon 2009 fand fast jeder vierte erwachsene Deutsche, dass man sich seinen Glauben selbst zusammenmixen sollte.
Obwohl oder vielleicht gerade weil wir in Scharen aus der Kirche austreten, haben viele von uns nach wie vor ein Bedürfnis nach Erleuchtung und Erklärungen fürs große Ganze. Dass sich so viele Menschen nicht mehr fürs klassische Christentum begeistern können, dafür aber umso enthusiastischer für alternative Heilslehren, Geister, exotische Götter und Wahrsager schwärmen, hat damit zu tun, dass sie von den traditionellen Glaubensprovidern keine Antworten auf Sinnfragen mehr erwarten: 2005 hielten noch fünfzig Prozent der Bevölkerung die Kirche für kompetent, diese zu beantworten, fand eine Studie von Allensbach heraus. Im Jahr 2010 waren es nur noch achtunddreißig Prozent.
Umso verlockender kommt uns die Schlichtheit alternativer transzendenter Angebote vor, die in einer immer schnelleren und hektischeren Welt ein paar Streicheleinheiten für die Seele versprechen – ohne großes Commitment, ohne umfangreiche Vorkenntnisse, aber mit scheinbarer Optimierungsgarantie fürs eigene Dasein. Unsere Idole machen es vor: Schon die Beatles leisteten sich einen eigenen Guru zur Seelenmassage, weil die Kirche nicht mehr zum rebellischen Auftritt passte. Heute brillieren Richard Gere, Uma Thurman oder Tina Turner in der Rolle des fröhlichen Buddhisten; Roberto Benigni, Seal, Nastassja Kinski und Kati Witt gehen angeblich zu Guru Gary Quinn, und auch Ex-Modern-Talker Thomas Anders ist dem Esoterischen nicht abgeneigt.
Das spirituelle Buffet war nie so üppig bestückt wie heute, wobei wir gar nicht jedes religiöse Angebot auch als ein solches wahrnehmen. Denn die Zutaten, mit denen wir das Gerippe unseres ehedem christlich sozialisierten Glaubens aufpolstern, stammen aus sehr unterschiedlichen Lehren. Je älter, exotischer und unglaublicher, desto sexier – wir hinterfragen selten, was uns da im Detail angeboten wird. Ein Beispiel ist das in Deutschland inzwischen viral verbreitete Yoga, das Aerobic des beginnenden 21. Jahrhunderts. Für uns ist es ein Sport, in Wahrheit ist es eine philosophische Lehre aus Indien, die aus dem Hinduismus stammt und in der auch der Gott Krishna eine Rolle spielt. Egal, solange es das eigene Wohlbefinden steigert, kommen wir gar nicht auf die Idee, nach der genauen Herkunft zu fragen. Den Buddhismus erkennen wir schon eher als Religion an, unter den großen Glaubensformaten erfreut sich derzeit kein anderes derart wachsender Beliebtheit. Wahrscheinlich weil wir damit friedliches Miteinander verbinden, das dem deutschen
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