Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
ich gern noch, um welche Uhrzeit Sie geboren sind«, beschließt sie die Befragung.
»Äh, sechs Uhr abends, glaub ich.«
Stille. Das leise Klackern einer Tastatur. Sie scheint irgendwas in den Computer einzugeben.
»Hm«, macht sie dann, und das klingt gar nicht gut. »In Ihrem Aszendenten ist zu viel Luft. Sie sind ja gar nicht geerdet!«
Da ist sie wieder: eine dieser Situationen, in denen man vor Staunen so perplex ist, dass einem nur wabbelige Verbalkartoffelpuffer aus dem Mund kämen, wenn man jetzt etwas sagen würde. Ich lausche deshalb in den Hörer und habe schon bald das Gefühl, ich sei mit einer dieser kostenpflichtigen Horoskop-Hotlines verbunden.
»Ja, Sie sind eine geradezu höchst seltsame Persönlichkeit«, fährt sie mit der Sterndeuterei fort. »Sie sind ziemlich emotional. Und so unstet.«
Wenn sie damit meint, dass ich wie alle anderen Menschen auch schon mal umgezogen bin, alle paar Jahre mein Lieblingsessen ändere und bei Pretty Woman geheult habe, dann muss ich der Frau wohl recht geben. Ich bleibe bei der Kartoffelpuffer-Taktik.
»Sie sagen ja gar nichts«, meint die Vermieterin freundlich.
»Tja«, krächze ich mühsam. »Ich weiß nicht. Bekomme ich die Wohnung denn jetzt?«
»Also, es tut mir wirklich leid!«, flötet sie fröhlich. »Aber das würden Sie an meiner Stelle doch auch nicht tun!«
Ich fühle mich wie von allen guten Geistern verlassen. Eines ist allerdings gewiss: Ich verstehe jetzt, warum Menschen in Grenzsituationen des Lebens wie Tod, Geburt und Wohnungssuche lieber auf Gott vertrauen als auf esoterische Hilfsmittel und Astrologie: Wer betet, muss vielleicht nicht pendeln.
In der Tat lauert die Esoterik überall: Glückskekse sind der krönende Abschluss eines jeden Abends im Chinarestaurant, und wer von den Vorhersagen nicht genug bekommen kann, öffnet bei Facebook eine Glücksnuss. Am Arbeitsplatz bekommen wir Besuch von der Ergonomie-Beraterin der Krankenkasse, die uns einen Rosenquarz gegen die Strahlung des Monitors empfiehlt. Unsere Hebamme stellt das Kinderbettchen um, weil sie eine Wasserader darunter vermutet, und drückt uns gleich noch ein paar Globuli gegen die Schmerzen beim Zahnen in die Hand. Zu Hause fliegt noch irgendwo ein Tarotkartenset herum, mit dem wir früher mal den Freundinnen zum Spaß die Zukunft vorausgesagt haben. An der Volkshochschule um die Ecke werden Kurse zum Pendeln oder zur Verwendung eines Biotensors angeboten, eine moderne Wünschelrute, mit der man angeblich die eigene Tagesenergie oder die Verträglichkeit von Lebensmitteln testen kann. Und den obligatorischen Glückscent hat fast jeder im Portemonnaie.
Im Fernsehen schauen sich viele Tarotlegen fürs Haustier an, lassen Aida ihre Träume deuten oder Romana einen Kontakt zum Jenseits herstellen. Hoch in der Gunst der Sinnsuchenden stehen Zeitschriften, die softe Esoterik versprechen, wie das Happinez – Mindstyle Magazin , das uns mit dem »Geheimnis des Zen« oder dem »Glück der Hingabe« zeigen will, wie »der Meeresrauschen-Atem unser Herz weit öffnen kann«. Papier ist auch dann geduldig, wenn das Eso-Programm auf wissenschaftliche Füße gestellt werden soll, wie in Tattva Viveka – Die Unterscheidung von Wahrheit und Illusion , einer Zeitschrift, in der sich Pseudopsychologie mit schamanistischem Schnickschnack paart. Bestseller wie The Secret geben uns das Gefühl, Teil einer geheimen Community zu sein, die um den Schlüssel zur Wahrheit weiß. Eine ziemlich große geheime Community: Fünfhundert Millionen Euro Umsatz werden laut Wirtschaftswoche jährlich mit Esoterik zwischen zwei Buchdeckeln in Deutschland gemacht, erheblich mehr wird mit spirituellen Dienstleistungen erwirtschaftet.
Der Heidelberger Zukunftsforscher Eike Wenzel schätzt, dass heute mit Esoterik in Deutschland jedes Jahr bis zu fünfundzwanzig Milliarden Euro umgesetzt werden, Tendenz steigend. Und so wundert es nicht, dass hierzulande Unternehmen aus dem Boden sprießen, die sich genau auf diesen wachsenden Markt einstellen. Eines davon ist Questico aus Berlin, das bereits zweitausendfünfhundert freiberufliche Hellseher beschäftigt, die ihre vorgeblichen seherischen Fähigkeiten in Fernsehshows und am Telefon einem immer größer werdenden Publikum anbieten. Die Firma macht heute nach Angaben der Zeit über drei Millionen Euro Gewinn.
»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.«
William Shakespeare
Die mystischen Glaubenswelten
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