Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
dass es aus China angekommen war, direkt zu dem Schamanen, der den Kunstzahn mit allerlei Rauch und Zauberwässerchen beschwor. Die Patientin glaubte daran und hatte in der Tat weder bei der Operation noch später irgendwelche Probleme mit dem Zahnersatz.
»Wahnsinn«, staunen wir. »Dann hilft das ja vielleicht doch?«
Hendrik grinst. »Was sie nicht weiß: Nachdem das Ding vom Schamanen zurückkam, habe ich es erst mal doppelt desinfizieren lassen, um der Horde von Bakterien Herr zu werden, die das Teil mittlerweile bevölkerten.«
Offenbar, so schließen wir, war bei der Heilung ein altes schamanisches Prinzip am Werk: Glaube versetzt Zähne. Hendrik kann sich allerdings damit trösten, dass er Opfer eines Transzendenztrends war, der sich still und leise in unser Leben geschlichen hat und hierzulande in unterschiedlichen Härtegraden mittlerweile fast genauso weit verbreitet ist wie das Christentum: Esoterik. »Die Esoterik dringt zunehmend in den ganz normalen Alltag ein«, sagt Hartmut Zinser, Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. »Viele nehmen sie schon gar nicht mehr als esoterisch wahr. Und das macht es so problematisch.« Denn die New-Age-Glaubenswelten sind ein gutes Beispiel dafür, wie schnell man sich an spirituellen Genüssen die Seele verderben kann – und auch dafür, dass mancher findige Kopf das Besinnungsbedürfnis anderer als wundersame Quelle der Geldvermehrung entdeckt hat.
Es beginnt im Kleinen, und beinahe jeder ist dafür empfänglich. Haben Sie sich nicht auch schon mal gefragt, ob es ein schlechtes Omen ist, wenn man vom Tod träumt? Ach so, Sie haben gestern gar nicht geschlafen, weil es eine Vollmondnacht war? Aber morgens, da haben Sie überlegt, ob es besser wäre, beim Aufstehen mit dem linken Bein den Boden zuerst zu berühren oder doch lieber mit dem rechten? Beim Frühstück haben Sie dann natürlich nur so nebenbei das Horoskop überflogen und sich vorgenommen, heute möglichst nicht mit Ihrem Chef aneinanderzugeraten? Wenn das zutrifft, dann stecken Sie vielleicht schon tiefer im spirituellen Schlamassel, als Sie denken. Und so gibt es kaum einen, der nicht auf die ein oder andere Weise damit in Berührung kommt: Esoterik begegnet uns heute meist in alltäglichen Situationen, in denen wir sie am allerwenigsten erwarten.
ANNE ERZÄHLT
»Das ist eine Strafe Gottes«, stöhne ich und halte den Anzeigenteil des Kölner Stadt-Anzeigers anklagend in die Höhe.
»Gott is fott«, sagt mein Freund Rodrigo. So was sagt er immer, wenn ich eine christliche Floskel verwende.
Die Wohnungssuche in der Rheinmetropole gestaltet sich mehr als schwierig. Angesichts der Angebotslage scheinen mir die sechzig Quadratmeter unterm Dach, die ich mit meiner netten Mitbewohnerin teile, für schlanke achthundert Euro gar nicht mehr so überteuert. Auch dass das Dachgeschoss nicht isoliert ist, es im Winter einem Tiefkühlfach und im Sommer einer Sauna gleicht, kann ich plötzlich verschmerzen, ebenso wie die fatale Lage zwischen einer großen Straße und einer Bahnlinie. Denn die Wohnungen, die ich mir bis jetzt angesehen habe, hatten Fußböden aus achtzig Jahre altem festgetretenen Kaugummi, innenliegende Küchen, keine Heizung oder undichte Fenster, und der Ein-Quadratmeter-Sonnenbalkon ging zur meistbefahrenen Straße des Viertels raus. Die einzige bewohnbare Butze liegt in der Peripherie – ich müsste jeden Morgen in die Stadt pendeln, und dazu habe ich wenig Lust.
Es kann eigentlich nur besser werden. Am Nachmittag schleife ich Rodrigo durch alle Viertel; nach zwei Stunden ist er bereits vor Entsetzen willenlos. Der letzte Termin des Tages führt uns in eines der hübschesten Viertel im Kölner Süden. Sündhaft teuer, und die Vermieterin hat bereits klargestellt, dass sie die Einzige ist, die das Fahrrad im Sommer im Hinterhof abstellen darf. Ansonsten ist die Wohnung ein Traum, ich würde am liebsten gleich einziehen.
Ich rechne mir eine kleine Chance aus. Die Vermieterin scheint mich zu mögen, wir kommen beide aus derselben Stadt, und überdies habe ich heute zur Feier des Tages mal eine Stoffhose und ein ordentlich geplüschtes Blüschen an und damit vermutlich einen vertrauenerweckenden Eindruck hinterlassen. Tatsächlich meldet sich die Vermieterin gleich am nächsten Morgen schon bei mir, um noch ein paar Infos einzuholen. Beinahe habe ich das Gefühl, das knisternde Papier des Mietvertrags schon in den Händen zu spüren.
»Und dann wüsste
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