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Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?

Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?

Titel: Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan;Weiss Bonner
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man schon fast das Gefühl hat, dass man inzwischen studiert haben sollte, bevor man einen Handytarif wählt oder eine Steuererklärung ausfüllt. »Die Kirche«, so ein Pfarrer aus der Nähe von Hamburg, »ist abhängig von biografischen Berührungspunkten. Dazu gehören Familie, Schule und Arbeitsplatz, die Medienwelt, die Peergroup. Für viele ist die Geburt des ersten Kindes ein Zeitpunkt für religiöse Neuorientierung – ein Anlass, sich oft nach langer Zeit wieder an die Kirche zu wenden.« Der Bedarf an Sinnstiftung und Besinnlichem ist nach wie vor da, denn grundsätzlich hat sich an den Eckdaten des menschlichen Lebens nicht so viel geändert. Doch zwei Drittel der Jugendlichen finden, dass die Kirchen nicht mehr die wichtigen Fragen des Lebens beantworten. Nur – wer tut es dann?
    Religionssoziologen wie Thomas Luckmann und Grace Davie glauben, dass die Säkularisierung mit einer religiösen Individualisierung einhergeht. Früher mag die Kirche einmal der einzige Anbieter gewesen sein, der das Leben in eine Formel gepresst und Orientierung geschaffen hat. Heute ist der Markt der Religionen vielfältiger geworden. »Eine religiöse Pluralisierung hat stattgefunden«, sagt Reinhard Hempelmann von der Evangelischen Zentrale für Welt-anschauungsfragen (ezw) . Wer Antworten auf existenzielle Fragen sucht, findet sie in allerhand alternativen Glaubensangeboten, die nichts mit dem klassischen Christentum zu tun haben. Das spirituelle Warenhaus ist bis unters Dach mit Heilsversprechen vollgestopft, und wir müssen uns nur noch jene Angebote herauspicken, die vermeintlich am besten zu uns passen. Und so bastelt sich jeder seine eigenen Glaubenswelten zusammen. Oder haben Sie nicht auch schon einmal die Sterne befragt, wenn es in Ihrem Leben nicht rund lief?

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    5
ES MUSS NICHT
IMMER JESUS SEIN
    Wie wir uns
eine eigene Religion basteln

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    G racia hat sich verpilgert. Eigentlich wollte sie auf einem der vielen Jakobuswege in Deutschland von Kevelaer nach Straelen wandern, als Training für den Camino Francés, den sie in drei Monaten laufen will. Aber bereits kurz hinter Kevelaer ist sie falsch abgebogen und schnurstracks über die nahe holländische Grenze in den kleinen Erholungsort Arcen marschiert. Nun sitzt die Achtundzwanzigjährige am Ufer der Maas und gönnt sich erst mal ein Eis vom »Ijssalon Clevers«, der wie an jedem Sommertag von Touristen, Wanderern und Ausflüglern belagert wird. Auch wir haben uns eine Eiswaffel geholt und kommen mit Gracia ins Gespräch.
    »Wie bist du denn auf die Idee gekommen, nach Santiago de Compostela zu laufen?«, fragen wir sie.
    »Hape«, antwortet sie mit vollem Mund.
    Wegen des wandernden Komikers ist die Zahl der Pilger aus deutschen Landen nach Angabe der Deutschen Jakobus-Gesellschaft um einundsiebzig Prozent gestiegen. Spazierexperten sprechen deshalb vom »Kerkeling-Effekt«. Seitdem Gracia Ich bin dann mal weg gelesen hat, sportelt auch sie sich emsig durch die Woche, meditiert jeden Abend zu heilsamen ayurvedischen Klängen und hat für schlappe anderthalbtausend Euro schon das komplette Pilgerset beisammen: vom Pilgerpass über den passenden Leichtrucksack bis hin zur Vorsorge gegen zu viel Gutes von oben, das Regencape. Mit traditioneller katholischer Wallfahrt hat ihre Reise recht wenig zu tun; Gracia ist nicht einmal getauft. Sie sucht auf dem Camino Besinnung, weil sie in ihrem Job unzufrieden ist und sich darüber klar werden möchte, wie es in Zukunft für sie weitergehen soll.
    »Der Weg ist das Ziel«, sagt sie, »ich will meditativ laufen und intensiv im Hier und Jetzt leben. Und ich will wieder klarsehen in meinem Leben.«

    Wie viele andere Pilger will Gracia auf dem Jakobsweg zu sich selbst und nicht zu Gott finden. Damit sie den langen Marsch durchhält, hat sie sich zum Geburtstag von ihrem Freund ein Power-Balance-Armband gewünscht – eine Plastik-Handschelle mit zwei kleinen Hologrammen, die das Logo des Herstellers zeigen. Seit Gracia den High-Tech-Talisman bei Sportlern wie Rubens Barrichello und Christiano Ronaldo gesichtet hat, ist sie von seiner Wirkung überzeugt. Das Armband soll laut Werbung Großes vollbringen und Kraft, Flexibilität und Gleichgewicht stimulieren. Für den spirituellen Support will sie nach Galicien außerdem ihren Lieblingsschmuck mitnehmen: ein Goldkettchen mit einem Miniatur-Buddha.
    »Gehen ist gesund«, sagt Gracia und stopft sich den Rest der Eiswaffel in den Mund. Eine rote Familienkutsche mit

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