Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heiliger Zorn

Heiliger Zorn

Titel: Heiliger Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
gekannt hatte, und er wusste nicht, ob er ihm noch vertrauen konnte.
    Schließlich führte Natsume uns durch einen Tunnel mit gewölbter Decke in einen weiteren Innenhof und ein kurze Treppe aus Erdholz hinunter in eine Grube, die mit Sumpfgras und anderen Kräutern bewachsen war und von einem kreisförmigen Steinweg eingefasst wurde. Dort, aufrecht gehalten vom spinnennetzartigen grauen Gerüst ihres Wurzelsystems, bot ein Dutzend Filigranmohnpflanzen ihre zerfledderten, schillernden roten und grünen Blütenblätter dem virtuellen Himmel dar. Die größte war bestenfalls fünfzig Zentimeter hoch. Vielleicht war es aus gärtnerischer Sicht beeindruckend, aber ich konnte es nicht beurteilen. Auf jeden Fall schien es keine großartige Leistung für einen Mann zu sein, der sich einst ohne Waffen nur mit Fäusten und Füßen und einer schnell abbrennenden chemischen Fackel gegen einen ausgewachsenen Flaschenrücken gewehrt hatte. Für einen Mann, der einst den Rila-Felsen ohne Antigravs oder Seile erklettert hatte.
    »Sehr hübsch«, sagte Brasil.
    Ich nickte. »Ja. Sie müssen sehr zufrieden mit Ihren Pflanzen sein.«
    »Eher in bescheidenem Rahmen.« Natsume musterte seine Schützlinge mit den zerfetzten Blütenblättern mit kritischem Auge. »Letztlich bin ich der nahe liegenden Schwäche erlegen, wie es offenkundig den meisten neuen Anhängern ergeht.«
    Er blickte erwartungsvoll zu uns auf.
    Ich schaute mich zu Brasil um, aber auch er hatte keine Hilfe anzubieten.
    »Sind sie nicht ein bisschen klein?«, fragte ich schließlich.
    Natsume schüttelte den Kopf und lachte leise. »Nein, sie sind sogar recht groß gewachsen für einen so feuchten Boden. Und – es tut mir furchtbar Leid – ich erkenne, das ich obendrein einem üblichen gärtnerischen Irrtum erlegen bin. Ich habe eine allgemeine Faszination für meine persönliche Leidenschaft vorausgesetzt.«
    Mit einem Achselzucken kehrte er zu uns zurück, wo er sich auf die Stufen setzte. Er deutete auf die Pflanzen.
    »Sie sind viel zu glänzend. Der ideale Filigranmohn ist matt. Er sollte nicht auf diese Weise reflektieren. Das ist vulgär. Zumindest ist es das, was der Abt zu mir gesagt hat.«
    »Nik…«
    Er sah Brasil an. »Ja?«
    »Nik, wir müssen. Mit dir reden. Über etwas.«
    Ich wartete. Jetzt war Brasil am Zug. Wenn er der Sache nicht traute, würde ich auf keinen Fall für ihn in die Bresche springen.
    »Etwas?« Natsume nickte. »Um was für ein Etwas handelt es sich genau?«
    »Wir.« Ich hatte den Surfer noch nie so verschlossen erlebt. »Ich brauche deine Hilfe, Nik.«
    »Ja, offensichtlich. Aber wobei?«
    »Es geht um.«
    Plötzlich lachte Natsume. Es klang freundlich und ein klein wenig spöttisch.
    »Jack«, sagte er. »Ich bin es. Glaubst du, nur weil ich jetzt Blumen züchte, kannst du mir nicht mehr vertrauen? Glaubst du, die Entsagung bedeutet, seine Menschlichkeit zu verkaufen?«
    Brasil wandte den Blick ab und starrte in eine Ecke des Gartens.
    »Du hast dich verändert, Nik.«
    »Natürlich habe ich das. Es ist über ein Jahrhundert her, was erwartest du?« Zum ersten Mal trübte ein leichter Anflug von Verärgerung Natsumes mönchische Gelassenheit. Er stand auf und drehte sich zu Brasil um. »Dass ich mein ganzes Leben am selben Strand verbringe, um zu surfen? Dass ich nur für den selbstmörderischen Nervenkitzel hundert Meter hohe Steilwände hinaufklettere? Dass ich die Versiegelung kommerzieller Bioware knacke, um das Zeug gegen schnelle Kohle auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen und das Ganze als Neoquellismus zu bezeichnen? Diese verdammte zähe Revolution!«
    »Das ist nicht…«
    »Natürlich habe ich mich verändert, Jack. Was für ein emotionaler Krüppel müsste ich sein, wenn es nicht so wäre?«
    Brasil kam ohne Vorwarnung eine Stufe zu ihm herunter. »Ach, und du glaubst, das hier ist besser?«
    Er schlug nach den Filigranmohnpflanzen. Ihre verflochtenen Wurzeln schienen unter der Gewalt der Geste zu zittern.
    »Du verkriechst dich in diese beschissene Traumwelt. Du züchtest Blumen, statt zu leben, und du wirfst mir vor, ein emotionaler Krüppel zu sein? Fick dich selber, Nik. Du bist der Krüppel, nicht ich.«
    »Was bewirkst du da draußen, Jack? Was davon ist so viel mehr wert als das hier?«
    »Vor vier Tagen stand ich auf einer zehn Meter hohen Wand!« Brasil versuchte sich zusammenzureißen, um sich wieder zu beruhigen. Sein Geschrei verebbte zu einem Gemurmel. »Das ist mindestens doppelt so viel wert wie diese ganze

Weitere Kostenlose Bücher