Heiliger Zorn
oder so machen werden, ob mit oder ohne deine Hilfe. Also…«
»Also gut.« Natsume hob die Hände. »Ja, ihr könnt sie haben. Sofort. Ich werde es euch sogar erklären. In der Hoffnung, dass es euch etwas nützt. Ja, macht nur. Zieht los und sterbt auf dem Rila-Felsen. Vielleicht ist das für euch real genug.«
Brasil grinste nur.
»Was ist los, Nik? Bist du plötzlich neidisch oder was?«
Natsume führte uns durch das Kloster zu einer dürftig möblierten Suite aus Zimmern mit Holzfußboden im dritten Stock, wo er mit den Händen Bilder in die Luft zeichnete und die Ersteigung von Rila für uns heraufbeschwor. Zum Teil zog er die Informationen direkt aus seinem Gedächtnis, wie es nun in der Virtualität codiert war, aber die Datenfunktionen des Klosters erlaubten ihm, seine Vorstellung mit dem objektiven Echtzeit-Konstrukt von Rila abzugleichen. Seine Vorhersagen erwiesen sich als absolut korrekt – die Reißflügler-Kolonien hatten sich ausgebreitet, und die Mauerkrone war umgebaut worden, obwohl der Datenstack des Klosters diesen Punkt lediglich visuell bestätigen konnte. Es gab keine Möglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was genau uns dort oben erwartete.
»Aber ein Nachteil wirkt sich immer in beide Richtungen aus«, sagte er mit einer Begeisterung, die noch nicht in seiner Stimme gewesen war, bevor er die Route skizziert hatte. »Dieser Sims ist auch für sie ein Hindernis. Sie können nicht so gut nach unten schauen, und die Sensoren werden durch die Bewegungen der Reißflügler irritiert.«
Ich sah zu Brasil hinüber. Es hatte keinen Sinn, Natsume etwas zu erklären, was er gar nicht wissen musste – dass das Sensornetz von Rila unsere geringste Sorge war.
»Drüben in New Kanagawa«, sagte ich stattdessen, »habe ich gehört, dass sie Reißflügler mit Mikrokam-Systemen ausstatten. Und sie dressieren. Stimmt davon etwas?«
Er schnaufte.
»Klar, nur dass sie dasselbe schon vor hundertfünfzig Jahren erzählt haben. Damals war es paranoide Scheiße, und ich vermute, dass es das immer noch ist. Welchen Sinn hätte ein Reißflügler mit einer Mikrokam? Sie halten sich nie in der Nähe menschlicher Ansiedlungen auf, wenn es sich vermeiden lässt. Und nach den Studien, von denen ich gehört habe, lassen sie sich nicht ohne weiteres domestizieren oder dressieren. Außerdem wäre es sehr wahrscheinlich, dass die Orbitale die Technik entdecken und sie im Flug abschießen.« Er bedachte mich mit einem unangenehmen Grinsen, das nicht aus dem Gelassenheitsrepertoire der Entsagenden stammte. »Glauben Sie mir, Sie werden genug Schwierigkeiten damit haben, durch eine Kolonie wilder Reißflügler hinaufzuklettern, sodass die theoretische Cyborg-Variante keine Rolle für Sie spielt.«
»Gut. Danke. Hätten sie noch weitere hilfreiche Tipps?«
Er zuckte die Achseln. »Ja. Stürzen Sie nicht ab.«
Aber der Blick in seinen Augen stand im Widerspruch zu seiner lakonischen Distanziertheit, und als er später die Daten übertrug, damit wir sie draußen abrufen konnten, verharrte er in einem angespannten Schweigen, das nichts mehr von der vorherigen mönchischen Ruhe hatte. Als er uns durch das Kloster zurück nach unten führte, sagte er kein einziges Wort. Brasils Besuch hatte ihn aufgerüttelt wie der Frühlingswind, der über die Karpfenseen in Danchi heranwehte. Nun rührten sich mächtige Umrisse unter der gewellten Oberfläche. Als wir die Eingangshalle erreichten, drehte er sich noch einmal zu Brasil um und sprach mit sichtlichem Unbehagen.
»Hör zu, wenn du…«
Etwas schrie.
Das Rendering des Konstrukts der Entsagenden war sehr gut – ich spürte das leichte Prickeln an den Handflächen, als die Gecko-Reflexe des Eishundo-Sleeves reagierten und bereit waren, in Stein zu greifen und zu klettern. Am plötzlich verstärkten Rand meines Gesichtsfelds sah ich, wie sich Brasil anspannte – und hinter ihm die Wand erzitterte.
»Bewegung!«, brüllte ich.
Zu Anfang schien es nur ein Effekt der Pförtnerbildteppiche zu sein, eine ähnliche Vorwölbung des Gewebes. Dann sah ich, dass sich das Mauerwerk hinter dem Stoff nach innen einbeulte, von Kräften verzerrt, die in der realen Welt nicht erlaubt gewesen wären. Das Geschrei war möglicherweise die virtuelle Entsprechung der extremen Belastung, der das Gebäude ausgesetzt war, oder es war einfach nur die Stimme dessen, war hier einzudringen versuchte. Wir hatten keine Zeit, uns zu vergewissern. Ein paar Sekundenbruchteile später brach die Wand
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