Heiliger Zorn
virtuelle Scheiße.«
»Ist es das?«, fragte Natsume mit einem Achselzucken. »Wenn du unter einer dieser Wellen draußen auf Vchira stirbst, hast du irgendwo dokumentiert, dass du nicht zurückkommen willst?«
»Darum geht es nicht, Nik. Ich werde zurückkommen, aber ich werde trotzdem gestorben sein. Es kostet mich einen neuen Sleeve, und ich werde durch das Tor gegangen sein. Da draußen in der realen Welt gibt es so viel, das du hasst…«
»Ich hasse nichts…«
»Da draußen haben Handlungen Konsequenzen. Wenn ich mir etwas breche, merke ich es, weil es, verdammt noch mal, wehtut!«
»Ja, bis das Endorphin-System deines Sleeves aktiv wird, oder bis du etwas gegen die Schmerzen nimmst. Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.«
»Was ich sagen will?« Brasil deutete wieder auf den Mohn, geradezu hilflos. »Scheiße, nichts von dem hier ist real, Nik!«
Ich nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr. Drehte mich um und sah zwei Mönche, die auf den lauten Wortwechsel aufmerksam geworden waren und am Eingangsbogen zum Innenhof verharrten. Einer der beiden hing dort buchstäblich herum. Seine Füße hatten einen Abstand von guten dreißig Zentimetern zum unebenen Pflaster.
»Norikae-san?«, sagte der andere.
Ich wechselte minimal die Stellung und fragte mich müßig, ob sie wirkliche Bewohner des Klosters waren oder nicht – und wenn nicht, welche Aktionsparameter sie für Fälle wie diese parat haben mochten. Wenn die Entsagenden interne Sicherheitssysteme installiert hatten, tendierten unsere Chancen bei einem Kampf gegen null. Man spazierte nicht in die Virtualität, die sich jemand anderer eingerichtet hatte, und prügelte sich erfolgreich, sofern dieser Jemand es nicht so wollte.
»Es ist nichts, Katana-san.« Natsume vollführte eine schnelle und komplizierte Geste mit beiden Händen. »Eine Meinungsverschiedenheit zwischen Freunden.«
»Dann entschuldige ich mich für die Störung.« Katana verbeugte sich mit zusammengelegten Fäusten, und die beiden Mönche zogen sich in den gewölbten Tunnel zurück. Ich konnte nicht erkennen, ob sie in Realzeit fortgingen oder nicht.
»Vielleicht«, begann Natsume, dann hielt er inne.
»Es tut mir Leid, Nik.«
»Nein, du hast natürlich Recht. Nichts von dem hier ist real, so wie wir es früher verstanden haben. Andererseits bin ich hier drinnen realer als je zuvor. Ich definiere, wie ich existiere, und eine schwerere Herausforderung gibt es nicht, glaub mir.«
Brasil sagte etwas Unhörbares. Natsume setzte sich wieder auf die Holztreppe. Er schaute sich zu Brasil um, und nach einer Weile hockte sich der Surfer auf eine Stufe, die ein Stück höher lag. Natsume nickte und betrachtete seinen Garten.
»Im Osten gibt es einen Strand«, sagte er geistesabwesend. »Im Süden Berge. Wenn ich es wünsche, könnte ich beides zusammenbringen. Ich kann jederzeit klettern und jederzeit schwimmen, ganz wie ich möchte. Sogar surfen, obwohl ich es bis jetzt noch nicht getan habe. Und in allen diesen Fällen muss ich Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die Konsequenzen haben. Flaschenrücken im Ozean oder nicht? Korallen, an denen ich mich blutig schrammen kann oder nicht? Oder überhaupt Blut, wenn ich blute? All das sind Dinge, die zuvor der Meditation bedürfen. Normale Gravitationseffekte in den Bergen? Wenn ich stürze, lasse ich dann die Möglichkeit zu, dass ich sterbe? Und was soll das für mich bedeuten?« Er blickte auf seine Hände, als wären auch sie etwas, worüber er entscheiden musste. »Wenn ich mir etwas breche oder mich verletze, lasse ich zu, dass es schmerzt? Und wenn ja, für wie lange? Wie lange soll ich warten müssen, bis eine Wunde verheilt ist? Werde ich mir erlauben, mich anschließend an den Schmerz zu erinnern? Und dann ergeben sich aus diesen sekundären Fragen – manche würden sagen, sie seien die primären – andere Themen, die ihre Häupter aus dem Sumpf heben. Warum tue ich all das wirklich? Will ich den Schmerz spüren? Warum sollte es so sein? Will ich wirklich abstürzen? Warum sollte das so sein? Spielt es eine Rolle für mich, ob ich den Gipfel erreiche, oder geht es nur darum, auf dem Weg nach oben zu leiden? Für wen tue ich all diese Dinge? Für wen habe ich sie früher getan? Für mich selbst? Für meinen Vater? Vielleicht für Lara?«
Er lächelte zum Filigranmohn hinüber. »Was glaubst du, Jack? Ist es nur wegen Lara?«
»Das war nicht deine Schuld, Nik.«
Das Lächeln verschwand. »Hier drinnen studiere ich das
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