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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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und von vorn anfangen.«
    »Was meinst du mit ›wegspülen‹?«
    Antonio deutete auf die Toilettentür.
    Brett setzte sich auf und versetzte die Hängematte in eine unangenehme Schaukelbewegung. »Hör mal, ihr könnt eine verdorbene Tinktur doch nicht einfach im Klo runterspülen! Seid ihr denn wahnsinnig? Man muss die Tinktur in dem Gerät zersetzen. Mann, das Abwassersystem wird überwacht! Man darf es nicht einfach so mit gefährlichen Chemikalien verunreinigen. Die sind womöglich sogar karzinogen! Da spielen die Überwachungsgeräte ja verrückt!«
    »Wir haben verdorbene Chargen auch schon früher weggespült«, erwiderte Antonio geduldig. »Das tun wir ständig.«
    »Verdorbenes Lacrimogen?«
    »Nein, Entheogene. Aber das geht schon klar.«
    »Du bist ein verantwortungsloser Soziopath, der keine Rücksicht auf Unbeteiligte nimmt«, sagte Brett in scharfem, bitterem Ton.
    Antonio grinste, vielleicht ein wenig verärgert, aber zu höflich, um es zu zeigen. »Wenn du Lacrimogen genommen hast, bist du immer unausstehlich, Natalie. Wenn du jemanden nerven willst, schaff dir einen Freund an. Eine Liebesaffäre kann dich genauso runterziehen.«
    Eine der Frauen kam herbeigeschlurft. Sie war keine Italienerin. Vielleicht Schweizerin. »Natalie, wir sind hier nicht in San Francisco«, sagte sie. »Das sind römische Abwasserkanäle, die ältesten Abwasserkanäle der Welt. Dort unten gibt es eine Menge Katakomben und verschüttete Villen, alte Jungfrauentempel, Mosaike, die Gebeine von Christen ...« Sie blinzelte und schwankte leicht. »Das bisschen Lacrimogen schadet den alten römischen Gespenstern nicht.«
    Brett schüttelte den Kopf. »Ihr müsst das Tinkturenset reinigen, das Diagnoseprogramm laufen lassen und dann die verdorbenen Chemikalien zersetzen. So wird das gemacht, ganz einfach!«
    »Wir sind zu müde«, meinte Antonio. »Willst du noch was haben oder nicht?«
    »Von dem Zeug will ich nichts«, sagte Brett. »Haltet ihr mich etwa für wahnsinnig? Ich könnte mich vergiften!« Sie brach in Tränen aus.
    Einer der Junkies meldete sich aus seiner Hängematte zu Wort. Er war groß und kräftig, hatte dichte, drohende Augenbrauen und einen Viertagebart. »Verzeihung«, sagte er mit irischem Akzent. »Lest laut vor, meine Lieben, plaudert miteinander, vergnügt euch. Aber zankt euch nicht. Und vor allem, keine Tränen.«
    »Tut mir Leid, Kurt, tut mir echt Leid«, sagte Antonio. Er brachte eine versiegelte Plastikpfanne ins Klo. Eine uralte Kette rasselte, dann gurgelte Wasser.
    Kurt setzte sich auf. »Oh, unser neuer Gast ist sehr hübsch.«
    »Sie hat Lacrimogen genommen«, meinte Brett abwehrend.
    »Frauen, die Lacrimogen genommen haben, brauchen einen Mann«, knurrte Kurt. »Komm kuscheln, Schätzchen. Wein dich in den Schlaf.«
    »Mit einem so schmutzigen Mann schlafe ich nicht!«, platzte Maya heraus.
    »Frauen, die Lacrimogen genommen haben, sind auch sehr taktlos«, bemerkte Kurt. Er wälzte sich auf die Seite. Die Hängematte ächzte.
    Eine Zeit lang war es still. Schließlich nahm Antonio wieder das Buch zur Hand und las weiter vor.
    »Ich verrate dir ein Geheimnis«, flüsterte Brett Maya zu.
    »Ja?«
    »Komm, wir legen uns hin.«
    Sie streckten sich in der Hängematte aus. Brett schlang die Arme um Mayas Hals und sah ihr in die Augen. Sie beide empfanden so tiefen Schmerz, dass die Berührung ausgesprochen trostreich war. Als wären sie gemeinsam im letzten Moment aus einem brennenden Fahrzeug gekrochen.
    »Ich tu’s nie wieder«, sagte Brett. Eine Träne rollte ihre Nase hinunter und fiel auf Mayas Wange. »Ich will Mode machen, mehr verlange ich gar nicht. Aber ich werde es niemals schaffen. Ich werde niemals so gut wie Giancarlo Vietti sein. Er ist hundertzwölf Jahre alt. Er besitzt sämtliche Files, die jemals über Mode veröffentlicht wurden, sämtliche Bücher, die je darüber geschrieben wurden. Seit fünfundsiebzig Jahren leitet er sein eigenes Modehaus. Er ist Multimillionär und hat einen riesigen Mitarbeiterstab. Ihm habe ich einfach nichts entgegenzusetzen.«
    »Irgendwann wird er sterben«, sagte Maya.
    »Klar. Vielleicht. Aber dann bin ich neunzig. Vorher werde ich keine Chance bekommen zu leben. Vietti hat jung angefangen, er hat Erfahrung erworben, er wird bei seinem Tod ein Jahrhundert lang der König der Modebranche gewesen sein. Diese Erfahrungen werden mir fehlen. Bis ich neunzig bin, habe ich mich in Stein verwandelt.«
    »Wenn er dir keinen Platz in seiner Welt einräumt,

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