Heiliges Feuer
poetischer Eloquenz über die Freuden ihres chemisch aufgepeppten Innenlebens zu reden. Die beredsamsten und intellektuellsten Junkies war im Allgemeinen die, deren Verfall am weitesten fortgeschritten war. Junkies waren so ziemlich die einzigen Menschen der modernen Welt, die wahrhaft krank aussahen. Junkies hatten Geschwüre, Karies und sprödes, lebloses Haar; Junkies hatten Flöhe und waren bisweilen auch Träger der gefährdeten Spezies der Läuse. Die von Pilzen befallene juckende Fußhaut der Junkies schälte sich ab, und ihnen lief die Nase. Junkies husteten und kratzten sich und hatten wässrige blutunterlaufene Augen. Sie gehörten zu den Millionen Menschen, die im fortgeschrittenen Verfall begriffen waren, doch allein die Junkies waren auf die Hygienestandards des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgefallen.
Die Junkies - ein Mann und zwei Frauen - hießen sie willkommen. In dem Keller hielten sich noch zwei weitere Männer auf, doch die träumten friedlich in ihren Hängematten. Die Junkies machten kein großes Aufhebens um Bretts Mitbringsel, sondern schafften mit rührender Hilfsbereitschaft eine zerschlissene Decke herbei und deckten alles zu. Dann wandte sich der männliche Junkie wieder seiner unterbrochenen Beschäftigung zu. Er las laut aus der italienischen Übersetzung des Tibetischen Totenbuchs vor und war bereits bis zu Seite 212 vorgestoßen. Die beiden Frauen, die in solchen Höhen schwebten, dass ein Drache nicht an sie herangereicht hätte, brachen hin und wieder in schallendes, zustimmendes Gelächter aus und zupften ansonsten versonnen an ihren Zehennägeln.
Maya und Brett legten sich in eine Zweierhängematte. Sie war mit ein paar Blutflecken verschmutzt, und sie verströmte einen unangenehmen Geruch, doch die Hängematte war hübsch gewebt und viel sauberer als der Fußboden. »Brett, woher kennst du diese Leute?«
»Maya, darf ich dich um etwas bitten? Um einen kleinen Gefallen? Ich heiße wirklich nicht Brett. Ich heiße Natalie.«
»Tut mir Leid.«
»Es gibt zwei Arten von Leben, weißt du«, sagte Natalie, während sie es sich in der schwankenden Hängematte bequem machte; offenbar kannte sie sich damit aus. »Das eine ist das Leben der Bürgerlichen, beim anderen geht es darum, wirklich bewusst zu werden.«
»Das ist nichts Neues für mich, schließlich komme ich aus San Francisco. Und mit welcher Brechstange willst du die Türen der Wahrnehmung aufhebeln?«
»Also, ich stehe auf Lacrimogen.«
»Oh, nein. Konntest du dir nicht etwas Harmloseres aussuchen, wie zum Beispiel Heroin?«
»Heroin kann im Blut und im Haar nachgewiesen werden und bringt einem nur Nachteile ein. Lacrimogen hingegen kommt in jedem Gehirn vor. Lacrimogen ist natürliche Neurochemie. Weil es nicht nachweisbar ist, ist es eine sehr lebendige Droge. Klar, wenn man zu viel nimmt, kriegt man Probleme, eine klinische Depression. Aber in der richtigen Menge genossen, macht es einen viel bewusster.«
»O je, meine Liebe.«
»Hör mal, ich bin eine Jugendliche, okay?«, sagte Brett. »Ich meine, das sind wir beide, aber ich kann mir das eingestehen, ich weiß wirklich, wie schlimm das ist. Weißt du, warum junge Leute es heutzutage so schwer haben? Nicht bloß deshalb, weil sie eine kleine Minderheit sind. Unser wahres Problem liegt darin, dass wir so mit Hormonen vollgestopft sind, dass wir in einer Phantasiewelt leben. Und das ist nicht gut für mich; ich kann mein Leben nicht auf leere Hoffnungen gründen. Ich muss meine Lage klar einschätzen.«
»Brett, ich meine Natalie, es erfordert große Reife, ohne Illusionen zu leben.«
»Also, ich setze auf künstliche Desillusionierung. Ich weiß, es tut mir gut.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass das stimmt.«
»Dann lass es mich dir beweisen. Lass uns wetten«, erklärte Natalie. »Wir nehmen beide hundert Mikrogramm Lacrimogen, okay? Wenn du dir dadurch nicht mindestens einer fürchterlichen Lebenslüge bewusst wirst, nehme ich nie wieder Lacrimogen.«
»Ist das dein Ernst? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das Versprechen einhalten würdest.«
»Lacrimogen macht nicht süchtig, weißt du. Man bekommt keine Schweißausbrüche oder irgendwelche anderen Entzugserscheinungen oder so. Natürlich würde ich damit aufhören, wenn ich nicht wüsste, dass es mir hilft.«
»Hör mal, die Selbstmordrate ist bei Lacrimogen unglaublich hoch. Alte Leute nehmen Lacrimogen, um den Mut zum Selbstmord aufzubringen.«
»Nein, das stimmt nicht, sie
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